Ein riesiges Eisfeld am Nordende der Ostsee. Verschneite Inseln, auf die sich kaum ein Mensch verirrt. Winter im Luleå Skärgård, einem Schärenlabyrinth vor der Küste Lapplands. Diese Landschaft zu entdecken, ist ein Abenteuer abseits der Spur – so weit das Eis trägt.
Am Nordpol der Ostsee
5. März | Kalkholmen > Es gibt eine Grenze, über die kein vernünftiger Mensch hinausgehen sollte. Auf den Karten des Schwedischen Meteorologischen und Hydrologischen Instituts (SMHI) zieht sie sich als fingerbreiter, grauer Gürtel um den gesamten nördlichen Teil des Bottnischen Meerbusens – von Piteå im Süden der schwedischen Provinz Norrbotten bis hinüber nach Oulu in Finnland, mehr als 300 Kilometer. Innerhalb des grauen Rings verwandelt sich die Ostsee jeden Winter in ein kompaktes Eisfeld, das die Küste und ihre vorgelagerten Inseln über Monate gefangen nimmt, sich stellenweise zu meterhohen Barrieren auftürmt und Schiffen den Weg in die Hafenstädte des Nordens versperrt – sodass nur noch Eisbrecher durchkommen. Örtlich wird dieser Eispanzer so fest und dick, dass sogar Autos gefahrlos darüber fahren können und die Behörden Straßen auf dem Meer freigeben.
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Doch jenseits dieses Gürtels beginnt auf den SMHI-Karten der rote Bereich. Dort ist das Eis nicht geschlossen, sondern beständig in Bewegung – es driftet und treibt mit der Meeresströmung, arbeitet, schiebt und ächzt, wird runzlig und glasig wie spröde Haut, splittert und bricht – öffnet und schließt sich. Jenseits der Grenzlinie ist das Eis lebendig und unberechenbar wie ein wildes Tier. Kein Mensch sollte sich dort aufhalten, sagt Leif Holmberg. Er muss es wissen, denn niemand sonst ist dieser Grenze so nahe. Der Fischer (67 Jahre) lebt mutterseelenallein auf einer Insel, 15 Kilometer vom Festland und 100 Kilometer vom Polarkreis entfernt – Schwedens letzter Mann vor der offenen Ostsee. Diesen Mann und seine Geschichte möchte ich kennenlernen, als ich Anfang März auf einer Landzunge nahe der Hafenstadt Luleå vor der Küste Lapplands auf die Bretter steige.
Ich habe diesen Tag lange herbeigesehnt. Für manche Wege gibt es so etwas wie einen inneren Kompass. Und meiner zeigt seit Monaten beständig nach Norden. Vor mir liegt eine Woche allein im Eis – und eine Landschaft, die in Europa ihresgleichen sucht. Einsam, riesig und bitterkalt: der Luleå Skärgård. Ein Labyrinth aus tausend tief verschneiten Inseln, die einander alle zum Verwechseln ähnlich sehen und auf die sich im Winter kaum ein Mensch verirrt. Auf Skiern in diesen eisigen Schärengarten einzudringen, ist alles andere als ein Spaziergang. Es ist ein Abenteuer, das Vorsicht erfordert, Orientierungsvermögen, solide Ausrüstung – und vor allem Ausdauer. Das Wetter in diesen Breiten ist launisch und wechselhaft. Die Temperatur kann im Winter bis minus 40 Grad in den Keller rutschen, Schneestürme und Sichtweiten unter zehn Meter sind keine Seltenheit. Eben zeigt sich die Landschaft vielleicht von ihrer schönsten Sonnenseite, doch plötzlich bricht die Hölle los, vom Meer zieht in atemberaubender Geschwindigkeit eine bleigraue Wand heran, und binnen Minuten wird alles, was zuvor klar und deutlich schien, im Schneetreiben zur blassen Ahnung – der Horizont, Uferlinien und Inseln, das Verhältnis von Nähe und Ferne, sogar der Boden unter den Füßen. Jeder Schritt geht ins Ungewisse, weil er keine Richtung hat und kein Ziel. Es ist eine andere – eine arktische Welt. Traumhaft schön und feindlich zugleich.
Wie weit ich gehen kann, ohne die rote Linie zu überschreiten, ist unklar. Anfang Februar ist das Meer in Teilen des Schärengartens noch offen. Drei Wochen später soll es nun endlich auch bei Brändöskäret, der äußersten Insel des Archipels, komplett zugefroren sein. Aber eine offizielle Bestätigung dafür gibt es weder vom SMHI noch von den örtlichen Behörden. Dem Vernehmen nach wurden Schneemobilspuren im äußeren Inselring gesehen – das wäre ein halbwegs verlässlicher Hinweis darauf, dass das Eis dort draußen Lasten vom Gewicht meines Gepäckschlittens trägt. Trotzdem hat mir Love Rynbäck zwei korkenzieherartige Metallgeräte mit auf den Weg gegeben und mir eingeschärft, sie immer um den Nacken zu tragen, wenn ich auf dem Eis bin – sollte ich einbrechen, kann ich versuchen, mich mit diesen Spitzen selbst aus dem Wasser zu ziehen. Love ist kein Draufgänger, sondern ein besonnener Mann, Wildnisguide und Inhaber der schwedischen Outdooragentur CreActive Adventure, die in Lappland alle möglichen Arten von Gruppen- und Soloabenteuer auf den Weg bringt. Für meine Tour in den Schärengarten hat Love einen Teil der Ausrüstung organisiert: Skier, Schneeschuhe, Pulka, Eisschrauben, Satellitentelefon, einen Vierliter-Kanister Benzin und schwedische Armeesocken aus dicker Schafswolle – die ich eine ganze Woche lang nicht mehr von den Füßen ziehen werde, selbst im Schlafsack nicht.
Es ist Sonntag, als ich den Fischereihafen Kalkholmen und das Festland hinter mir lasse – einen 40 Kilo schweren Gepäckschlitten im Schlepp. Ich folge einer Schneemobilpiste in nordöstlicher Richtung, wo sich in der Ferne ein dunkler Landstrich gegen den Horizont abhebt: Hindersön, eine der wenigen ganzjährig bewohnten Inseln des Schärengartens – jetzt im Winter leben dort vielleicht 20 Leute. Es gibt einen Bauern und eine Rinderherde auf der Insel und ein Café namens Jopikgården, das in dem Ruf steht, die besten Waffeln in ganz Schweden zu servieren. Ich nehme mir vor, das zu prüfen. Jenseits von Hindersön jedoch, im äußeren Ring des Archipels, ist niemand mehr zu Hause. Östlich von Hindersön leben nur Krähen, Robben und Möwen, jetzt im Winter vielleicht auch ein paar Elche. Und der Fischer Leif Holmberg. Das Wetter meint es gut mit mir. Draußen auf dem Eis lacht die Sonne mit tausend funkelnden Augen – und lässt den acht Kilometer breiten Sund zwischen Hindersön und der Festlandsküste wie ein Brillantcollier schimmern und gleißen. Ich kneife die Augen zusammen und korrigiere meinen Kurs. Die Sonne lasse ich hinter mir. Es geht nach Norden.
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Polarlichter
6. März | Hindersön > Manchmal hängt der Himmel tatsächlich voller Geigen. Mein Zelt steht an der windexponierten Ostküste von Hindersön, alle Leinen sind straff gespannt, die Heringe einen halben Meter tief im Schnee vergraben – reine Vorsicht. Der Himmel ist klar, nichts deutet darauf hin, dass sich das Wetter Übernacht zum Schlechten wendet. Der Mond wirft ein mattes, geisterhaftes Licht auf den eisbepackten Strand. Es ist bitterkalt und so still, dass ich jede kleinste Schneeflocke höre, die auf dem Zeltdach landet. Und plötzlich sind sie da. In sanften Wellen steigen sie am nördlichen Horizont herauf, weben und tanzen über dem Wald – verschwinden und erscheinen aufs Neue. Weißgrüne Lichter, langsam und nebelgleich wie der Widerschein eines unsichtbaren Leuchtturms. Es ist atemberaubend. Hätten sie einen Klang, wäre es eine leise, fast wehmütige Melodie.
Es war ein Schwede, der ihren Zauber entschlüsselte. 1867 untersuchte der Physiker Anders Jonas Angström die Aurora Borealis mit einem Prisma und wies nach, dass sie ein anderes Farbspektrum hat als das Sonnenlicht. Nordlichter entstehen, wenn Sonnenwinde auf Stickstoff- und Sauerstoffatome in den oberen Schichten der Erdatmosphäre treffen. Doch wenn man sie am Himmel sieht, passen die Erklärungen der nordischen Mythologie viel besser: Es ist der magische Widerschein auf den Rüstungen der Krieger, die sich im Walhall versammeln. Lichter unserer Ahnen, die aus dem Jenseits herüberwehen. „Ich könnte stundenlang mich nachts in den gestirnten Himmel vertiefen, weil mir diese Unendlichkeit fernher flammender Welten wie ein Band zwischen diesem und dem künftigen Dasein erscheint”, schrieb Wilhelm von Humboldt. Mir geht es ganz genauso. Und der Luleå Skärgård ist neben der Fjällstation Abisko wohl der beste Ort in Lappland, um diesen Zusammenhang zu beobachten.
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Wandern bis zum Whiteout
8. März | Brändöskäret > An der Küste erzählt man sich so einige Geschichten über dieses stille Insel-Labyrinth. Sie handeln von Stürmen und gefährlichen Strömungen, von Fischern, Seefahrern und Robbenjägern. Von Schneemobilen, die am Grund der Ostsee liegen – Männern, die aufs Eis gingen und nicht zurückkehrten. Ein Stück südlich von Luleå gibt es einen Stein, der an eines dieser Schicksale erinnert. Er trägt die Namen von acht Jägern, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf Nimmerwiedersehen im Luleå Skärgård verschwanden. Göran Wallin hat mir davon berichtet. Göran führt Touren im Archipel, er kennt sich aus. Früher hat er mal als Reporter bei der lokalen Tageszeitung gearbeitet. In den letzten Jahren sei da draußen aber nicht viel passiert, beteuert er. „Die meisten Leute wissen, was sie machen.“ Doch ob alle Geschichten, die der Schärengarten in sich trägt, in die Nachrichten gelangen, kann auch Göran nicht mit Sicherheit wissen. Wie viele behält das Eis für sich? Wie viele Erzählstränge gehen vielleicht einfach so verloren, ohne dass jemals ein Mensch oder gar ein Reporter davon erfährt – und enden irgendwo da auf dem Meer, zwischen 1300 einsamen Inseln?
Es sind solche Gedanken, die mir am vierten Tag meiner Wanderung immerfort durch den Kopf spuken. Denn meine Welt gerät ins Wanken. Seit dem frühen Morgen hält mich der Horizont zum Narren. Bislang lief bei meiner Tour fast alles nach Plan. Von Hindersön bin ich vor zwei Tagen bei schönstem Sonnenschein zur Nachbarinsel Degerön weitermarschiert. Das Wetter ist stabil, von ein paar leichten Schneeschauern und Nebelschwaden abgesehen. Für arktische Verhältnisse sind die Temperaturen erstaunlich mild: zwischen -10 und -15 Grad. Lediglich mein Kocher hatte unterwegs einen heiklen Aussetzer. Er sprang nicht an. Ohne Kocher bin ich aufgeschmissen. Ich muss Schnee schmelzen, sonst habe ich kein Trinkwasser. Das Gerät mit frostklammen Fingern auseinander zu montieren und wieder in Gang zu bringen, kostet Nerven und kostbare Zeit. Mit einem Tag Verspätung nehme ich nun über einen zehn Kilometer breiten Meereskanal hinweg Kurs auf Brändöskäret, die östlichste Insel des Schärengartens, wo auf den Karten des SMHI die rote Linie verläuft, die unsicheren Drift- und Packeisfelder beginnen und der Archipel wie ein Finger zur offenen See zeigt. Ein einsamer Flecken Land unter dem weiten Himmel, mit steinigen Buchten, einigen windzerzausten Sträuchern, Kiefern- und Birkenbäumchen und einer Handvoll falunroter Fischerhütten, die im Winter so still und verlassen wie ein Geisterdorf zwischen meterhohen Schneewehen stehen. So habe ich es auf Fotos im Internet gesehen. Doch meinen Augen kann ich nicht mehr trauen. Es ist wie verhext: Erst erschien die Insel als ein dicker dunkler Streifen in der Ferne. Je näher ich ihr komme, umso schmaler und blasser wird die Linie. Als würden sich die Ufer und Hügel von Brändöskäret heimlich hinterm Horizont verkriechen, während ich darauf zuhalte. Mehr noch: Auch der Horizont selbst gerät auf höchst seltsame Weise in Bewegung. Fast sieht es so aus, als würde die Welt ganz allmählich, leicht und sachte nach oben gekippt, nicht mehr als ein paar Millimeter nur, wie wenn man von einem flachen Hügel hinuntersteigt und dabei den Blick in die Ferne gerichtet hat. Ich bin hier mitten auf dem Meer. Die Oberfläche eines Meeres ist – von Wellen einmal abgesehen – in topographischer Hinsicht glatt und flach wie ein Crêpe. Wo bitte soll hier ein Hügel sein?
Es gibt eine logische Erklärung für dieses Phänomen, doch man muss es selbst erlebt haben, um zu glauben, dass man solche minimalen Abweichungen von der natürlichen Raumordnung tatsächlich merkt und wie verstörend und beunruhigend sie hier draußen auf einen wirken. Die Sache ist so: Wie dick und stabil der Eisschild auch sein mag, seine Tragfähigkeit ist einer schier unermesslichen Schneelast ausgesetzt, die auf ihm niedergeht. Mancherorts bürstet der Wind das Eis zwar blank – aber der größte Teil des Schärengartens liegt unter einer meterdicken Schicht Pulverschnee. Auf einer Fläche, wie sie vor mir liegt, von vielleicht fünf mal zehn Kilometern kommen Tausende und Abertausende Tonnen zusammen. Eisflächen von dieser Größe geben dem immensen Gewicht nach und „hängen“ zwischen den Inseln durch wie zu schwer beladene Bleche. Kreuzt man solche Bereiche, wandert man tatsächlich in ein Tal – und auch wieder hinaus. Mitten auf dem Meer.
Die Sache hat noch einen anderen Haken. Als ich vor einigen Wochen mit Love Rynbäck die Details meiner Tour durchspreche, erzählt er mir von einer besonderen Wetterlage im Luleå Skärgård – die zwar selten ist, aber gefährlich werden kann. Das Verhängnis beginnt mit starkem Südwind und kann dazu führen, dass aus den südlichen Teilen der Ostsee offenes Wasser in die Schären gedrückt wird. Auf den Flächen zwischen den Inseln sammelt es sich dann wie in einem Suppenteller – und das bedeutet: Eis unter! Wer nicht aufpasst und rechtzeitig an Land kommt, steht wie beim Gezeitenhub plötzlich bis zum Bauch im Wasser.
Mir erschwert der Schnee den Weg nach Brändöskäret. Und zwar gewaltig! Trotz der Tourenski versinke ich bei jedem Schritt knöcheltief, manchmal knietief in diesem flockigen Treibsand und komme nicht vom Fleck. Die 40 Kilo Schlittengewicht am Rücken tun ihr Übriges – ich fange an zu keuchen wie eine dienstmüde Dampflok, muss mich teils waagerecht ins Geschirr stemmen und habe bald keinen trockenen Faden mehr am Leib. So oft ich auch sehnsuchtsvoll zum Horizont blicke: Die Insel will nicht näherkommen. Zu allem Überfluss legt der Wind plötzlich einen kräftigen Zahn zu – diesmal von vorn! Der Schnee fegt mir um die Füße, stiebt mir in den offenen Kragen, verklebt Mund, Nase und Augen und vernebelt mir die Sicht. Der Schärengarten verhüllt sein Gesicht – binnen Sekunden ist von meinem Ziel am Horizont nicht mal mehr ein blasser Streifen zu sehen. Alles um mich herum verwirbelt zu pointilistischen Trugbildern. Was dieser Landschaft ihre Gestalt verleiht, löst sich auf, kehrt zurück in seinen Urzustand und wird zum Nichts. Für mich sieht es aus wie das Ende der Welt. Nur, dass es nicht finster wird, sondern weiß! Übrig bleiben die Kälte, das sirenenhafte Heulen in der Luft – und eine ungefähre Ahnung, wo in diesem Nirwana oben und unten zu suchen ist. Aussitzen will ich den Wettersturz aber nicht, denn hier auf dem Meer kann das Unheil von allen Seiten kommen. Und so steuere ich blind in den Veitstanz hinein, verlasse mich ganz und gar auf Kompass und GPS-Gerät und beginne meine Schritte zu zählen. Alle 100 Schritte mache ich eine kurze Pause. Am Ende führt diese Strategie zum Erfolg. Doch es werden die längsten zehn Kilometer meines Lebens.
Stunden später erreiche ich zwischen zwei eisverkrusteten Findlingen schweißgebadet und vollkommen erledigt das Ufer von Brändöskäret. Hinter der Böschung liegt das Dorf – so verschneit und verlassen wie auf den Fotos. Auf einer Anhöhe dahinter entdecke ich das Dach der legendären Inselkapelle, ein windschiefes rostrotes Holzkirchlein, das seit fast 250 Jahren so manchen sturmgebeutelten Fischern und Wandersleuten seelischen Schutz und Trost gespendet hat. Ich jedoch ziehe die örtliche Sauna vor. Die Hütte steht offen und erspart mir das lästige Zeltaufbauen. Ich entscheide mich für den Ruheraum, dichte die fingerbreiten Ritzen zwischen den Dielenbrettern mit meiner Zeltunterlage ab und rolle die Isomatte darauf aus. Irgendwo hatte ich gelesen, dass eine der zwei Dutzend Fischerhütten einem lokalen Bildhauer gehört, der sie im Sommer manchmal als Atelier benutzt. Im Winter kommen hin und wieder Touristengruppen mit Schneemobilen hier raus. Sogar Schwedens König soll der Insel vor zehn Jahren einen Besuch abgestattet haben. Ob er auch in der Sauna war, weiß ich nicht. Er kam mit dem Helikopter. Doch an diesem Abend ist mir alles egal – Brändöskäret mitsamt seiner hölzernen Kapelle, all den Geisterhütten, Sehenswürdigkeiten, Berühmtheiten und Geschichten von verschollenen und heimgekehrten Fischersleuten. Ich falle in meinen Schlafsack, ziehe mir die Kapuze über den Kopf – und bin augenblicklich weg.
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(M)ein Stück vom Himmel
10. März | Långön > Die Erde ist eine Scheibe! Das ist so offenkundig, dass überhaupt kein Zweifel daran bestehen kann. Wenn ich die Augen zusammenkneife, sehe ich sogar ihren Rand: Weit im Osten steht er in Flammen. Dort steigt soeben als rotgelber Feuerball die Morgensonne aus dem Meer und überzieht die Gestade von Småskären mit ihrem flüssigen Gold, wie eine geheimnisvolle Bernsteinküste. Im Norden flimmern die Ufer von Degerön am frostgrauen Horizont. Von Süden starren die weißen Klippen von Kluntarna zu mir herüber. Und genau da, wo dieser tiefverschneite Erdkreis seinen Mittelpunkt hat, steht mein Zelt.
Jeder kennt Momente im Leben, in denen man sich fragt: Wo zum Teufel ist mein Stück vom Himmel? Das kommt wahrscheinlich daher, dass man in so einem Augenblick gewaltig den Kopf hängen lässt. Aber das ist die verkehrte Sichtweise. Der Himmel ist ja nicht unten, sondern oben. Er war auch noch nie woanders. Hier im Norden sind solche Fragen überflüssig. Heute Morgen auf Långön ist der Himmel nicht zu übersehen – voller Licht und unermesslich weit. Der Tag strahlt mich an. Nur im Westen zotteln ein paar dicke violette Schäfchenwolken über ihre blauen Weiden. Sie stören nicht weiter. Mein letzter Tag auf dem Eis ist einer von der Sorte, die man am liebsten umarmen möchte! Die Welt ist so hell und frisch, als habe man sie eben erst aus ihrer Gussform herausgeklopft. Windstill. Sonnig. Zwei Grad plus.
Ich schmelze einen Topf voll Schnee und hänge einen Teebeutel hinein. Das Frühstück lasse ich ausfallen. Den sechsten Tag in Folge nichts als Trockennahrung – ich krieg es einfach nicht mehr runter! Dass mir die Tour durch den Schärengarten auch in kulinarischer Hinsicht einiges abverlangen würde, war zwar klar – aber einen so schlechten Eindruck hatten die eingeschweißten Fertiggerichte nun auch wieder nicht gemacht. Vom Café Jopikgården und Schwedens besten Waffeln bin ich inzwischen so weit entfernt wie der SV Darmstadt 98 von der Meisterschale. Ich ziehe einen 40-Kilo-Schlitten bis an den Rand der begehbaren Welt, belohne mich dafür mit dauerkonservierten Nudeln und eisernen Keks-Rationen und habe Tagträume von Spiegeleiern mit Speck und fettglänzenden Hamburgern.
Doch dieser Morgen auf Långön fühlt sich einfach zu gut an, um sich die Freude darüber verderben zu lassen – selbst mein böse knurrender Magen schafft das nicht. Gegen neun Uhr breche ich auf, Richtung Westen – zurück zum Festland. Das Eis hat an einigen Stellen hässliche braune Flecken bekommen, hier und da schimmern Wasserpfützen. Es taut. Vielleicht ist es ganz gut, dass meine Expedition zu Ende geht. Der Frühling wird den Schärengarten bald in eine einzige Slusheis-Suppe verwandeln, auf der man sich nur noch mit PS-starken Luftkissenbooten fortbewegen kann. In Luleå kann man solche Touren buchen. Für mich ist das nichts. Ich mag es, mich entlang meiner eigenen Grenze zu bewegen. Auf zwei Beinen. So weit das Eis eben trägt.
Gegen Mittag entdecke ich in der Ferne die ersten Autos. Mitten auf dem Meer. Das ist die Eisstraße von Storbrändön nach Kalkholmen. Vor Tagen war sie wegen des Schneefalls noch gesperrt. Ich bin am Ziel. Bald darauf erreiche ich die ersten Tannenbäume, die abseits der Straße als Leitpfosten für die Schneemobilfahrer aufgepflanzt werden. Mein innerer Schweinehund, den ich sechs Tage an der kurzen Leine hatte, meldet ich zurück und sonnt sich schon heftig in der Gewissheit, am Abend ein Bier zu trinken. Das ist in Ordnung, meinetwegen kann er jetzt die Oberhand gewinnen! Ich bin zufrieden und fühle mich beschenkt. Der Amerikaner John Muir, geistiger Vater der Nationalparkidee, hat einmal gesagt: „Bei jedem Schritt in die Natur bekommt man weit mehr als man sucht“. Das stimmt. Und der Fischer Leif Holmberg? Der Mann im Eismeer, den ich unbedingt kennenlernen wollte? Nun, ich habe ihn getroffen. Aber das ist eine andere Geschichte…*
*Wie die Begegnung mit Leif Holmberg ablief und wie es Schwedens letzter Mann auf seiner Insel im Eis aushält, erfahrt ihr in der >>> Printausgabe!
Die Expedition wird unterstützt von:
Swedish Lapland Visitors Board
CreActive Adventure AB
Globetrotter Ausrüstung
Visit Luleå
Bergsport Arnold
Böhmwanderkarten
Abt. Orientierungslauf ESV Lok Bad Schandau
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