Eine Naturkatastrophe vor 90 Millionen Jahren hat die Sächsische Schweiz womöglich stärker geprägt als viele Jahrtausende langsamer Verwitterung: ein entsetzlicher, geradezu apokalyptischer Sturm. Er entfesselte das Kreidemeer und hinterließ Spuren, die bis heute sichtbar sind.
Nördlich von Schmilka, vor 90 Millionen Jahren. Im Gebiet des heutigen Elbsandsteingebirges tobt ein Sturm, wie ihn die Welt lange nicht gesehen hat. Unter dem pechschwarzen Himmel schäumt und wogt eine schier endlose Wasserfläche: Tethys, das kreidezeitliche Südmeer. Ein Ozean in Aufruhr. Wie ein wütendes Tier rennt er mit gespenstischen Brechern gegen die nahe gelegenen Küsten der Lausitz an, fällt donnernd und geifernd über die Insel her, begräbt ihre Sandbänke, Strände und Dünen – zertrümmert und walzt alles nieder, was ihm in den Weg gerät. Da, wo dereinst der Teufelsturm friedlich über dem Elbtal aufragen wird, ist die Hölle los. „An einem Dienstag in der Kreidezeit“, wie Rainer Reichstein zu sagen pflegt.
Er hat sich diesen Scherz ausgedacht, denn anders sind die Kräfte, die da im Keller der Erdgeschichte gewaltet haben, kaum zu fassen. Ein einziger Tag vor 90 Millionen Jahren hat die Sächsische Schweiz womöglich stärker geprägt als viele Jahrtausende langsamer Verwitterung. Ein einziger apokalyptischer Sturm.
Sachsen und Europa sind zu dieser Zeit eine Welt aus kleinen Inseln. Eine davon wird in geologischen Fachkreisen die Sudetische Insel genannt – ihr westlicher Zipfel entspricht in etwa dem heutigen Gebiet der Lausitz. Ihre Südküste verläuft vermutlich von Hohnstein nach Osten – wahrscheinlich irgendwo zwischen Heeselicht, Ehrenberg und dem Kirnitzschtal, immer der Granitlinie folgend. Die Sächsische Schweiz gibt es noch nicht. Erst Millionen Jahre später wird das Meer verschwunden sein, zu Stein verfestigt der einstige Ozeanboden. Allmählich werden die Kräfte des Klimas, der Tektonik und Verwitterung daraus eine zerklüftete Mosaiklandschaft aus grauweißen Türmen und Tafelbergen erschaffen, die heute auf der Welt ihresgleichen sucht: das Elbsandsteingebirge.
Rätselhafte Kiesel im Stein
Es ist Januar. Ein Mittwoch in der Neuzeit. Gestern hat es ein bisschen geschneit, doch im Elbtal ist wieder alles fortgeschmolzen. Die weißen Felsen schauen wie ernste Großväter zu uns herunter. Ich blicke mich um: Auf den ersten Blick haben die Schrammsteine wenig Horizontales zu bieten. Überall gibt es Klüfte, Kamine, steile Wände – lauter schroffe, senkrechte Linien. Es braucht Fantasie, um sich diese Landschaft als ein Kind des Meeres vorzustellen. Wir stehen 200 Meter hoch über dem Elbtal im Wald und betrachten ein uraltes Stück Ozeanboden: das mächtige Dach der Teufelsturmboofe. Hier tritt die Spur der Verwüstung noch immer zu Tage: In Augenhöhe verläuft quer zur Wand ein mächtiges Sandsteinflöz, das sich deutlich von den darüber und darunter liegenden Felsschichten unterscheidet – wie grobe Teewurst zwischen zwei versteinerten Sandwichhälften. Sein Material ist viel körniger, voller Löcher und gespickt mit teils daumengroßen Kieseln. Für die anderthalb Meter dicke Brötchenhälfte darunter haben die Sedimentationskräfte vermutlich Jahrtausende benötigt, aber der 30 Zentimeter starke Belag entstand in geologisch atemberaubender Geschwindigkeit. „In ein bis zwei Tagen“, sagt Rainer Reichstein.
Der Experte mit dem krausen Seemannsbart kennt Sachsens steinernes Meer mit seinen Horizonten, Schichten und Tiefen wie kaum ein anderer. Seit Jahren befasst er sich mit der in Stein geschriebenen Geschichte der Sächsischen Schweiz. Er weiß, was die Fachliteratur darüber sagt. Aber seine wichtigsten Bücher sind die Felswände. Aus ihnen liest er heraus, wie ein Gebirge entsteht. Warum sich die Landschaft in so vielfältige Strukturen und Formen auffächert. Woher es kommt, dass körniger Quarzsand in unendlich langen Zeiträumen zu festen, kompakten Gebilden verklebt – stabil genug, um daran zu klettern. Aus dem Hobbygeologen Rainer Reichstein wurde beim unermüdlichen Betrachten von Felswänden jemand, den studierte Fachleute ernst nehmen.
Doch woher will er wissen, dass die seltsame Teewurstablagerung in der Teufelsturmboofe von einem urzeitlichen Orkan herrührt? „Die Schicht zeigt“, sagt Reichstein, „dass plötzlich enorme Energie im Wasser war“. Die Strömung war offensichtlich stark genug, um grobe Sedimente, die normalerweise keinen halben Kilometer vom Land weggetragen werden, weit ins Meer hinaus zu schleppen. Um nämlich das ganze Ausmaß der Naturkatastrophe zu erahnen, muss man wissen, wo vor 90 Millionen Jahren die Küste verläuft. Sichere Beweise gibt es nicht, aber geologisch spricht einiges dafür, dass sich der nächste Zipfel Festland etwas weiter nördlich befindet – wahrscheinlich drei bis fünf Kilometer. Auf den Strand folgt flaches Wasser, das allmählich tiefer wird. Am Teufelsturm, wo wir stehen, ist das Meer vielleicht schon 100 Meter tief. Die Kräfte, die imstande waren, hier – fern jeder Brandung – am Grund so deutliche Spuren zu hinterlassen, müssen schon ungeheuerlich gewesen sein.
Ein Schaufenster der Urzeit – die Teufelsturmboofe
Ein Jahrhundertsturm? „Wohl eher ein Jahrtausendsturm“, sagt der Geologe Thomas Voigt von der Universität Jena. Der Wissenschaftler erforscht die Sedimentationsgeschichte der sächsischen Kreide seit über 20 Jahren und kennt im Elbsandsteingebirge noch andere Stellen, die auf urzeitliche Naturgewalten hinweisen.
Nicht immer kamen sie so stürmisch daher, manchmal entfaltete das Meer seine alles verändernde Macht auch vergleichsweise friedlich. Meeresspiegelschwankungen von zehn bis 20 Metern seien typisch für die Kreidezeit gewesen, sagt Thomas Voigt. Die küstennahen Bereiche im Gebiet der Sächsischen Schweiz dürften über lange Zeiträume von einigen 10.000 Jahren immer wieder trockengefallen und überflutet worden sein. Doch das Flöz am Teufelsturm zeugt von roher, spontaner Gewalt. Die Experten deuten es als „Tempestit“ – als Sturmsandlage.
Aus heutiger Sicht hatte die Katastrophe auch ihr Gutes: Ohne sie hätte zum Beispiel das markante Dach der Teufelsturmboofe, unter dem schon so mancher Naturliebhaber eine romantische Nacht verbracht hat, nie entstehen können. Um ein gutes Foto von dem Überhang zu bekommen, klettere ich ein Stück die Wand hinauf und zwänge mich in eine mannsdicke Fuge, die sich unmittelbar unter dem Dach quer durch die Boofe zieht, wie ein nach innen gestülpter Balkon. Darüber ist der Fels kräftig ausgewittert, weil von oben beständig Sickerwasser durch die offenen Poren des Sandsteins dringt, gegen ein Weitersickern nach unten aber sperrt sich das Flöz mit seinen harten undurchlässigen Kieseln. „Wie bei einer Kiesdrainage“, sagt Rainer Reichstein. Wo jedoch Wasser seitlich aus einem Felsen tritt, wird dieser allmählich ausgehöhlt, bis er irgendwann nachgibt und ein Stück abbricht – so entsteht mit der Zeit ein Überhang.
Ich bringe mich in Position, halte die Luft an und mache mein Bild. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich in einer Zeitfuge liege – in einem Grenzbereich zwischen Jahrtausenden, die durch einen schicksalhaften Tag voneinander getrennt wurden. Ein magischer Platz. Einen Moment lang ist mir, als würde ich von unsichtbaren Kräften ganz langsam nach unten gedrückt – 90 Millionen Jahre tief auf den Grund der Geschichte – und könnte die Last des Kreidemeeres über mir fühlen. Beklemmend! Ich stecke die Kamera weg und sehe zu, dass ich schleunigst wieder aus dem Spalt herauskomme.
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