Abenteuerjagd im Untergrund

Höhlenkletterer am Ausgang der Schleifsteinhöhle
In solchen beklemmend engen Spalten fühlt sich Höhlenkletterer Daniel Flügge in seinem Element. Wo für andere kaum noch Platz zum Atmen ist, passt der gertenschlanke Dresdner problemlos hindurch. (Foto: Hartmut Landgraf)

Im Elbsandsteingebirge gibt es Orte, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Dafür muss man tief unter die Felsen kriechen. In Spalten, von denen niemand sagen kann, wohin sie führen und ob man je wieder hinauskommt. Manche Leute lieben sowas.

Flueggus ist ein Höhlenaal. So werden Leute von seiner Statur halb bewundernd, halb spöttisch unter ihresgleichen genannt. Von anderen, die sehr viel breiter um die Schultern sind. Oder auch um den Bauch. Flueggus heißt eigentlich Daniel Flügge, ist 36 Jahre alt, Geophysiker aus Dresden – hager, sehnig, wendig, Normalgewicht 65 Kilo. Und das Beneidenswerte an ihm ist: Er passt in nahezu jeden Felsspalt. In der Welt eines Höhlenkletterers ist das so etwas wie ein Freibrief, der einem Zutritt zu geheimnisumwitterten Orten verschafft, die andere nie zu Gesicht bekommen. Flueggus hat es in dieser Hinsicht weit gebracht. Weiter als die meisten. Seit 20 Jahren aalt und windet er sich schon im Untergrund des Elbsandsteingebirges herum – kriecht durch Spalten, Klüfte und Gänge – durch eine Welt im Verborgenen, tief unter den berühmten Tafelbergen und Tälern, wo stellenweise noch nie ein Mensch gewesen ist. Ein wahres Paradies für Höhlenforscher, Entdecker und abenteuerhungrige Leute wie ihn. Der Dresdner Heimatbuchverlag hat einen Führer zu dieser Welt herausgegeben. Mehr als 350 Höhlen sind darin verzeichnet. Flueggus hat die Liste „komplett abgearbeitet“. Und er kennt inzwischen noch einige Höhlen mehr.

Haupteingang der Schleifsteinhöhle
Ein Bild wie aus der Steinzeit: Höhlenfreunde am Haupteingang der Schleifsteinhöhle im Bahratal. (Foto: Hartmut Landgraf)

Michael Bellmann wurmt sowas vielleicht – insgeheim. Denn Bellmann ist kein Höhlenaal. Man könnte sagen, er ist für sein Alter gut beieinander – 43 Jahre, groß und kräftig, am Gürtel vielleicht schon ein, zwei Löcher breiter als früher. 96 Kilo schwer. Bellmann ist vielleicht nicht gerade Mister Underground. Aber er könnte sich im Keller der Sächsisch-Böhmischen Schweiz mit einigem Recht als Hausmeister fühlen. Als er vor fast 30 Jahren im Kamnitztal in seine erste Höhle kletterte, sprang ein Funke über. Das Feuer brennt noch heute. Auch er ist mittlerweile in fast allen bekannten Schlotten und Löchern des Elbsandsteingebirges gewesen – und er hat sie nicht nur befahren, wie Bergleute sagen, sondern auch beschrieben. Vor nunmehr 15 Jahren hat er gemeinsam mit Henry Krönert den ersten Höhlenführer fürs Elbsandsteingebirge geschrieben und herausgegeben, Bellmann gehört der Heimatbuchverlag. „Als die erste Auflage rauskam, hab ich in die Wohlrabhöhle noch reingepasst“, erinnert er sich mit einer Spur von Bedauern in der Stimme. Denn der insgesamt rund 45 Meter tiefe Schlund im Bielatal ist in der Szene gleichermaßen berühmt wie berüchtigt. An einer Stelle geht es durch ein presswurstenges Kaminstück hinunter – und auch wieder hinauf. Das letzte Mal, dass Bellmann dort unten war, ist nun schon lange her. Inzwischen ist die dritte Auflage seines Höhlenführers erschienen.

Ein Kletterer erkundet einen bislang unbekannten Höhlenzugang
Darfs noch etwas abenteuerlicher sein? Ein Kletterer erkundet einen bislang unbekannten Zugang in die Schleifsteinhöhle. (Foto: Hartmut Landgraf)
Höhlenspinne
Da zieht man die Schultern lieber noch ein bisschen mehr ein: Eine dicke Spinne lauert in einem Winkel der Schleifsteinhöhle auf Beute. (Foto: Hartmut Landgraf)

Die Schleifsteinhöhle im Bahratal ist dagegen eher eine Art Kleinkaliber zum Warmwerden. An einem Sonntag Anfang März versammelt Michael Bellmann dort rund 30 Gleichgesinnte zum 4. Sächsisch-Böhmischen Höhlenfreundetreffen – darunter einige in der Bergsportszene bekannte Kletterer aus Tschechien und Sachsen, die sich auch als Höhlenerschließer einen Namen gemacht haben. Flueggus ist mit dabei.

Das Rauskommen ist die eigentliche Schwierigkeit

Wer sich insgeheim auf eine Maulwurfstour eingestellt hat, ist freudig überrascht, dass man den Vorraum der Schleifsteinhöhle durch eine mannsbreite Kluft zunächst mal im aufrechten Gang betreten kann. Hier bietet sich einem ein Bild wie in den Morgenstunden der Menschwerdung: Männer wandern zum Berg hinein, verschwinden tief drinnen zwischen Spalten und Blöcken und kehren nicht mehr zurück. Ein paar Wortfetzen und Gelächter dringen noch dumpf heraus, der Schein einer Stirnlampe huscht über die Wand – dann hat der Felsen plötzlich alles verschluckt. Von Flueggus ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Der Aal ist abgetaucht – und offenbar in seinem Element. Bellmann hingegen scheint es nicht eilig zu haben. Er sieht aus wie ein Automechaniker, der unter einen besonders dreckigen Wagen kriechen muss. Umständlich zwängt er sich in eine blaue Schlosserkombi, die an den Knien schon fleckig ist, schiebt sich eine Stirnlampe über den Kopf und schaltet sie an. Für einen wie ihn ist es sicher ein Jammer, dass man den Untergrund der Sächsischen Schweiz zumeist nur im Kriechgang befahren kann, dass es keine luftigen Hallen und Dome mit prächtigen tropfsteinbehangenen Gewölben gibt, sondern nur feuchte und beengende Nischen, Klüfte und Kammern, kaum jemals größer als ein Fahrradkeller. Leute mit Platzangst oder ausgeprägter Bierplauze haben in diesem Reich nichts verloren. „Nicht das Reinkommen, ist das Schwierige“, sagt der Höhlenexperte, „sondern das Rauskommen“. Er ist selbst schon ein paar Mal in Situationen geraten, aus denen er sich nur mit Ach und Krach wieder herauswinden konnte. Wer 20 Meter tief unter der Erde in einem Loch festklemmt, der hat ein ernstes Problem. „Höhlenklettern ist gefährlicher als Bergsteigen“, findet Michael Bellmann, der beides betreibt.

Michael Bellmann in der Schleifsteinhöhle
Der Höhlenbär höchstpersönlich: Heimatforscher Michael Bellmann kennt im Elbsandsteingebirge mehr als 350 Höhlen und hat sie in einem Führer beschrieben. (Foto: Hartmut Landgraf)
Hinterausgang der Schleifsteinhöhle
Der Hinterausgang der Schleifsteinhöhle ist nichts für Leute mit Platzangst. (Foto: Hartmut Landgraf)

Unsere Tour erweist sich als vollkommen ungefährlich. Schwierigkeit S1. Die Skala der Höhlenkletterer geht offiziell bis S5 – inoffiziell sogar bis S7. „Man hört von Leuten, die sich durch Spalten gezwängt haben, die gerade mal 17 Zentimeter breit waren“, erzählt Bellmann voller Begeisterung. Aber muss Leidenschaft wirklich so weit gehen? In die Schleifsteinhöhle kommt man jedenfalls problemlos rein und muss dabei noch nicht einmal den Bauch einziehen. Gleich hinter dem Haupteingang verschwindet ein Seitenarm der Kluft zwischen mächtigen Blöcken, schon nach wenigen Metern biegt der Gang abrupt um die Ecke und man rutscht hinüber in ein feuchtes, steinernes Verließ, an dessen Wänden und Decken dickbäuchige Winkelspinnen herumhangeln. Weiter geht´s nicht. Erst im Februar hat Michael Bellmann dort auf einem Sims ein Höhlenbuch ausgelegt. Wer will, kann von hier auf anderen Wegen wieder zurück ans Tageslicht kriechen – 15, vielleicht auch 20 Meter weit durch mehrfach gewundene Tunnel. Die Schleifsteinhöhle soll Ende der 80er-Jahre von Kletterern entdeckt worden sein. Zumindest ist nichts anderes bekannt. Später wurde sie von einer Dresdner Höhlenforschergruppe vermessen. Rechts und links davon gibt es in den Felsen sicher auch noch ein paar unentdeckte Löcher.

Trubel in der Schleifsteinhöhle
So viele Besucher hatte die Schleifsteinhöhle wohl schon lange nicht mehr. Anfang März haben sich hier 30 Gleichgesinnte zum 4. Sächsisch-Böhmischen Höhlenfreundetreffen versammelt. (Foto: Hartmut Landgraf)

Unter der Erde gibt es noch viel zu entdecken

Wir schreiben uns ein und genießen im Funzellicht der Stirnlampen einen Moment absoluter, gedankenleerer Stille. Hier drinnen hört man nichts mehr von der Außenwelt, keinen Wind, keine Stimmen, kein Vogelgezwitscher – nichts als den eigenen Herzschlag. Argwöhnisch achten wir darauf, was die Spinnen machen. Auf der Schulter möchten wir von denen keine haben. Was treibt einen bloß dazu, solche unwirtlichen Orte aufzusuchen? Bellmann überlegt. „Vielleicht“, sagt er, „ist es eine Art Urinstinkt“. Womöglich macht sich das letzte Quäntchen Höhlenmensch noch immer bemerkbar. Irgendetwas in unseren Genen hat den neuzeitlichen Affentanz da draußen satt und will vielleicht zurück in den Schoß von Mutter Erde. Denn dort gibt es noch echte Abenteuer und Entdeckungen. Die Höhlenwelt des Elbsandsteingebirges ist noch lange nicht erschlossen. „Das ist wie ein süßer Brei“, sagt Bellmann – „es werden immer mehr Höhlen entdeckt, und nicht bloß kleine Löcher, sondern auch richtig große Sachen.“ Das Bahratal ist dafür prädestiniert – eigentlich fast jedes Tal in der Sächsischen Schweiz. Überall, wo Felsmassen an einem Steilhang nach unten drängen, bilden sich Risse und Hohlräume im Stein.

Höhlenbuch
Das Höhlenbuch der Schleifsteinhöhle ist nagelneu. Es wurde erst am 19. Februar ausgelegt. (Foto: Hartmut Landgraf)

Als wir zurück ans Tageslicht krabbeln, ist plötzlich auch Flueggus wieder da – mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Nebenan hat er sich in einen vielversprechenden Kamin hineingewunden und ist fündig geworden: eine winzige Felsenkammer ohne Höhlenbuch. Ob sie wirklich noch unberührt war, ist allerdings fraglich. In der benachbarten Kluft hat jemand einen alten Topf vergessen. Aber Höhlenkletterer sind nicht wählerisch. Flueggus hat ein Buch ausgelegt und seiner Kammer kurzerhand und passend zum Topf den Namen „Kalte Küche“ verpasst. Schwierigkeit S3. Wenn sie später mal in der vierten Ausgabe von Bellmanns Führer erscheint, ist vielleicht auch Flueggus kein Höhlenaal mehr. „Ich weiß nicht“, sagt er, „ob ich heute noch in alles reinpassen würde, wo ich schon mal drin gewesen bin.“

Neben dem Höhlenführer gibt Michael Bellmanns Heimatbuchverlag auch eine Reihe von Wander- und Klettersteigführern zur Region heraus. Kontakt übers Internet unter: http://www.heimatberge.de/index.html

1 Kommentar zu Abenteuerjagd im Untergrund

  1. Klingt sehr interessant. Wir sind eine Gruppe aus Passau, die regelmäßig Höhlen im Frankenland und der Schwäbischen Alb besuchen.
    Wir möchten gern im Elbsandsteingebirge Höhlen bei Hrensko befahren. Da war ich vor 25 Jahren, würde die Stellen aber nicht wieder finden. Im Netz sind die Führer Sächsische, Böhmische Schweiz vergriffen und den alten von damals gibt es nicht mehr. Könnt Ihr helfen? Ich erinnere mich noch an einen „schrecklichen Weg“ lt. Beschreibung.
    Euer Höhlentreffen klinkt auch interessant, gebt doch Bescheid, wenn der nächste Termin steht!

    Danke und Grüße aus Passau, Bernd

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*