Für manche Kletterer ist sie so etwas wie das letzte große Abenteuer: die City. Ein Besuch in Leipzig, wo es weit und breit keine Berge gibt – aber jede Menge Bergsteiger.
Es gibt eine Menge Leute, die schwören, dass Klettern den Geist befreit – ähnlich wie eine Meditationsübung. Stattdessen glaube ich langsam, dass Klettern vom Geist befreit. Jedenfalls mich. An einem Freitagabend hocke ich im Schutz der Dunkelheit wie ein Dieb unter einer Brücke, die Kamera im Anschlag, und fixiere eine Wand. Keinen turmhohen Gipfel der Sehnsucht, sondern eine schnöde Mauer, grau und graffitiverschmiert wie viele andere, fünf Meter hoch, höchstens sechs. Eine Ecke, wo vermutlich zahllose Köter ihr Bein heben und herrenlose Bierflaschen ihre Sammler finden. Ich bin anderthalb Stunden quer durch den Freistaat gedüst, 120 Kilometer Autobahn. Dafür! Bin ich noch bei Trost?
Solche Gedanken muss man ausschalten, wenn man mit Sachsens verrücktester Kletterszene Bekanntschaft machen oder sie vielleicht sogar verstehen will – an einem Ort, wo es weit und breit keine Berge gibt: mitten im Stadtzentrum von Leipzig. Hier betreibt eine Handvoll Leute einen Sport, der sich für Bergsteiger zunächst mal sehr nach verkehrter Welt anhört: City Climbing. Ralf Görner fühlt sich in dieser Welt zu Hause. Sie ist sein Projekt. Seit inzwischen drei Jahren zieht der professionelle Gebäudekletterer und Familienvater nach Feierabend mit seinen Freunden um die Ecken der Messestadt – auf dem Rücken ein Crashpad und die Fotoausrüstung – und findet überall Objekte, die ihn zum Klettern und Bildermachen herausfordern: Hauswände, Türme, Böschungsmauern, Brückenpfeiler, riesige Baggerschaufeln im ehemaligen Braunkohle-Tagebaugebiet – das Völkerschlachtdenkmal… Die Spur seiner irren Kletterleidenschaft zieht sich nicht nur durch Leipzigs Straßen, sondern auch durchs Internet – zu finden u.a. auf Ralfs Facebookseite panoRAL Foto. Was ihn eigentlich antreibt, kann er dabei gar nicht so recht beschreiben: „Es macht mir einfach Spaß Locations zu entdecken und dann daraus ein Bild entstehen zu lassen“, sagt der Leipziger.
Leipzig hat sogar einen Kletterführer fürs Stadtgebiet
Locations gibt es genügend. Nach Dresden ist die Messestadt trotz ihrer eierkuchenflachen Umgebung Sachsens zweitgrößte Klettermetropole – mit mehreren Tausend organisierten Bergsteigern, überdachten Kunstwänden in zwei großen Kletter- und einer Boulderhalle und einer Zahl von Steinbrüchen im näheren Umfeld. Es gibt sogar einen speziellen Boulderführer für die City – der immerhin 224 Routen auflistet. Viele Brücken der Stadt sind darin noch gar nicht enthalten. Der Führer zeige also „nur ein Bruchteil der Möglichkeiten“, behauptet Ralf.
Und heute soll es der Treppenaufgang an der Leipziger Sporthochschule sein. Das strukturlose Stück Mauer, das auf den ersten Blick nur als Graffitifläche zu taugen scheint, hat in Ralfs Welt einen großen, geradezu dramatischen Namen: „Fixation on the darkness“ – Hang zur Dunkelheit. Denn City-Climbing, wie er es versteht, ist kein schnöder, kulturloser Kraftakt an irgendeiner scharfkantigen Pinkel-Ecke, sondern eine Inszenierung von Körpern und Bewegung, von Linien und Licht – ganz ähnlich einem Theaterstück.
In diese Dramaturgie bin ich hineingeplatzt wie ein Kulturbanause, der fünf Minuten nach Beginn der Vorstellung durch die Reihen drängelt und Anspruch auf seinen Sitzplatz erhebt. Ich bin zu spät – und zwar richtig! Fünf Minuten wären ja fast noch eine Verbeugung vor dem Gott der Pünktlichkeit gewesen. Stattdessen erreiche ich den Schauplatz des Geschehens mit dampfenden Reifen und schlechtem Gewissen. Unten an der Wand warten die Protagonisten: Ralf und zwei weitere Freunde – Denis und Lucie. Es gibt sogar eine Bühnenbeleuchtung. Denis hat ein drei Meter hohes Stativ ausgefahren und daran ein Blitzlicht samt Schirm befestigt. In dem Augenblick, als Ralf sich anschickt, den „Hang zur Dunkelheit“ in die Mangel zu nehmen, bricht das Blitzlichtgewitter los. Ralf kommt fix voran, schneller als gedacht – und ist schon das erste Mal oben, bevor ich überhaupt eine vernünftige Fotoposition finden kann. Wieder eine Location, die er abhaken kann. Aber Ralf ist nett und macht´s nochmal.
Von Tom Gehlers Projekt auf der anderen Seite der Brücke sehe ich leider nichts mehr – bloß die Wand. Er selbst ist schon nach Hause abgedampft. Wie ich höre, war Tom bestens in Form und hat die extrem schwere Route mit dem bezeichnenden Namen „Problemzonengymnastik“ gleich viermal durchgeklettert. So geht City-Climbing: ein bisschen wie ein Flashmob. Man verabredet sich lose übers Internet, und wenn alles zusammenpasst, trifft man sich zur vereinbarten Zeit an irgendeiner Ecke zum Klettern. Tom ist in dieser Szene einer der Fittesten, mit Ralf befreundet und zurzeit des Öfteren sein Fotomotiv. Er hat auch bereits ein neues Projekt: „Boulder 428“, eine Mauer, mit der er noch eine Rechnung offen hat. Bei den ersten Versuchen musste Tom Blutzoll bezahlen – er hat sich eine Fingerkuppe wundgeklettert. Die Griffe sind so filigran, dass die gesamte Körperlast beim entscheidenden Zug nur auf ein paar Quadratmillimetern Haut ruht. City-Climbing ist kurz, aber garantiert nicht schmerzlos. Als ich Tom später anrufe, ist er optimistisch und skeptisch zugleich: „Vielleicht komme ich da bloß ein einziges Mal in meinem Leben hoch“, sagt er. Spätestens bei diesem Satz ahne ich, was City-Climbing wirklich ist: Begeisterung! Kein Ersatz für die ungestillte Bergsehnsucht der Leipziger, sondern ein Sport für sich – mit eigenen Regeln, Mythen und Helden. Tom und Ralf und viele andere pendeln am Wochenende gern und oft zum Klettern ins Elbsandsteingebirge oder in die Fränkische Schweiz – und freuen sich trotzdem jedes Mal wieder auf ihre urbane Kletterdomäne. Es ist eine Welt für sich, in der es nicht um Gipfel oder legendäre Linien geht, sondern um den Reiz einzelner Züge und Bewegungen – und um besondere Spots. Vielleicht ist es eine verkehrte Welt. Aber für die Leipziger fühlt sie sich goldrichtig an.
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