Bergretter aus Sachsen haben im Erdbebengebiet zwei Wochen lang Nothilfe geleistet. Nun sind sie zurück. Ein Gespräch über das Leid im Himalaya, über Wunden, Tod und Trümmerberge. Und einen Funken Hoffnung.
Sie wollten tief hinein ins Erdbebengebiet – dahin, wo die Lage besonders hoffnungslos ist und wo kaum jemand Hilfe leistet: in die Berge und Dörfer nördlich von Nepals Hauptstadt Kathmandu. Eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben im Himalaya haben sie kurzentschlossen frei genommen und sind mit Medikamenten und Verbandsmaterial im Rucksack ins Flugzeug gestiegen: ein vierköpfiges Team vom Alpinclub Sachsen. Ein Arzt aus Brandenburg und drei Dresdner: Anästhesist Rutker Stellke, Alpinclubchef Christian Walter und seine beiden Bergwachtkameraden Falk Protze und Raphael Meßner. Zwei Wochen lang haben sie in einem Dorf namens Gunsakot ein Sanitätscamp betrieben und Verletzte verarztet – inmitten von Nachbeben, Tod und Trümmerbergen. Nun sind alle vier gesund zurück. Im Gespräch mit dem Sandsteinblogger berichtet Christian Walter vom großen Leid eines kleinen Landes. Von der Hilfe, die noch immer dringend benötigt wird. Aber auch vom Mut und Lebenswillen der Menschen im Himalaya.
Christian, in den Nachrichten gerät Nepal inzwischen schon wieder aus dem Blick – wie ist die Lage dort?
Das Land ist sehr schwer getroffen. Es ist zwar nicht alles kaputt – gerade in der Hauptstadt sind viele Häuser erstmal stehengeblieben – aber von denen wird man noch etliche abreißen müssen, weil sie so schwer beschädigt sind, dass sie eine Gefahr darstellen. Überall wird schon mit Reparaturen angefangen, aber natürlich nützen ein paar Eimer Gips und Mörtel wenig, wenn die gesamte Struktur hinüber ist. Dann bauen sich die Leute bloß eine Zeitbombe, und die Polizei hat jetzt auch begonnen, solche Häuser zu sperren – notfalls gegen den Willen ihrer Besitzer. In der Bevölkerung wird das noch Diskussionen hervorrufen. Der Staat benötigt finanzielle Unterstützung, um Fördermittel für die notwendigen Abriss- und Neubaumaßnahmen bereitstellen zu können. Im Prinzip braucht Nepal Hilfe ohne Ende. Zurzeit wissen die Leute noch nicht mal, wohin mit dem ganzen Schutt. Hier und da wurden die Trümmer mit dem Bagger bloß ein bisschen planiert und zur Seite geschoben. Dann hat die Straße einen Hügel, über den man drüber fährt und weiß – das war mal ein Haus.
Kann Nepal denn überhaupt schon an den Wiederaufbau denken? Was ist mit den Verletzten und Opfern?
In den Krankenhäusern gibt es noch immer viel zu tun – teils mit internationaler Unterstützung. Inzwischen entstehen personelle Lücken, weil sich die nepalesischen Ärzte nach der ersten Woche auch um ihre eigenen Familien kümmern mussten. Viele sind vom Land in die Stadt gekommen, haben aber daheim selbst Häuser und Angehörige verloren. Und das betrifft auch die Armee. Das alles sind Probleme, die man auf den ersten Blick nicht sieht, die aber das Wiederanlaufen des normalen Lebens behindern. Hinzu kommt die Angst vor weiteren Nachbeben. In Kathmandu schlafen selbst wohlhabende Leute noch immer am Straßenrand unter einer Plane, weil sie sich nicht in ihre Häuser zurücktrauen.
Wie war die Situation in Gunsakot, als Ihr dort angekommen seid?
Dort ist im Prinzip alles zerstört – 95 Prozent der Häuser sind unbewohnbar. Der Distrikt Sindhupalchock ist die Region in Nepal, die am schwersten betroffen ist und wo es die meisten Toten gibt. Allein in Gunsakot sind 46 Leute ums Leben gekommen und es gab einige Hundert Verletzte. Zuerst konnte man das Dorf nicht mal mit dem Jeep erreichen. Wir mussten die Autos stehenlassen und das letzte Stück laufen, ungefähr eine Stunde. Glücklicherweise war die Wasserversorgung im Ort noch intakt oder schon wieder hergestellt, als wir dort ankamen. Es gab sogar eine öffentliche Toilette, die funktionierte. Die örtliche Medizinstation hatte das erste Beben zwar überstanden, ist dann aber bei einem Nachbeben eingestürzt.
In den Medien wurde von einem Nachbeben der Stärke 7,2 berichtet. Gab es da in Gunsakot nicht erneut Tote und Verletzte?
Es gab ständig Nachbeben – ein oder zwei waren auch etwas heftiger. Im Ort wurde von einem weiteren Toten berichtet. Gesehen haben wir ihn allerdings nicht. Aber im Lager haben wir sofort wieder auf Katastrophenmodus umgeschaltet, weil wir wussten, was das bedeutet: gebrochene Arme und Beine, tiefe Schnittwunden, offene Schädelfrakturen…
War das für euch nicht auch sehr gefährlich?
Ich kenne solche Nachbeben schon von unserer Aktion in Pakistan vor zehn Jahren. Damals habe ich sie schlimmer empfunden. Das Wichtigste ist, dass du immer und überall das Umfeld und deine möglichen Fluchtwege im Blick hast. Denn du weißt: Wenn es jetzt rumpelt, hast du noch fünf Sekunden Zeit, bevor irgendwelches Zeug geflogen kommt…
2005 bist du schon einmal spontan in ein Erdbebengebiet gefahren, um zu helfen. Damals in Pakistan war das alles noch neu für dich. Hast du es diesmal anders empfunden?
Die Leute gehen mit der Katastrophe irgendwie anders um. In Pakistan waren die Betroffenen demoralisiert und in einem Zustand, wo sie nur noch auf fremde Hilfe gewartet haben. In Nepal wird überall schon wieder gewerkelt. Vielleicht liegt das am Monsun. Die Menschen wissen: Wer kein Dach überm Kopf hat, für den wird es hart. Vielleicht liegt es auch an der Mentalität oder an kulturellen Unterschieden. Und sicher spielen Opferzahlen eine Rolle. Sakargah, das Dorf, in dem wir damals Hilfe geleistet haben, war genauso groß wie Gunsakot. Aber die Zahl der Toten war ungleich größer. Jede Familie hatte mindestens ein bis zwei Verluste zu beklagen. Ganz so schlimm war es in Gunsakot zum Glück nicht.
Wart ihr mit den vielen Verletzten nicht überfordert?
Einige Leute mit sehr komplizierten Verletzungen mussten wir ins Krankenhaus schicken, weil wir dafür nicht ausgerüstet waren. Trotzdem haben wir versucht, so viel wie möglich selbst zu machen. Darunter gab es auch einige Fälle, die bei uns in Deutschland in eine Spezialklinik gekommen wären. Manchmal musste unser Arzt zaubern. Aber für die Betroffenen war es besser so. In Nepal ist nämlich folgendes passiert: Am Anfang hat die Armee die allerschlimmsten Fälle mit dem Hubschrauber rausgeholt, die wurden in Kathmandu verarztet, eingegipst und zugenäht – und dann wieder nach Hause geschickt. Die Leute sind auf teils abenteuerlichen Wegen zurück in ihre Dörfer gekommen, und weil sie laufen mussten, waren die Verbände wieder ab, die Nähte wieder ausgerissen, und dann sind sie mit dem gleichen Problem zu uns gekommen, und wir haben alles noch mal gemacht. Die Wunden waren offen, entzündet und in einem sehr schlechten Zustand…
Schwer vorstellbar, wie man solche Schmerzen tagelang ertragen kann…
Ein Junge war vielleicht sechs Jahre alt und hatte eine 13 Tage alte, offene Schädelfraktur. Wenn so eine Wunde tagelang offen ist, der nackte Knochen rausguckt, dann stirbst du daran. Zumindest bei uns. In Nepal haben die Leute anscheinend ein sehr viel besseres Immunsystem. Wir haben den Jungen wieder zusammengenäht, und er hat es erstaunlich gut weggesteckt. Auch ein anderes Kind hat uns sehr beeindruckt: Ein Zwölfjähriger aus dem Nachbarort, dessen Eltern bei dem Erdbeben beide ums Leben gekommen waren. Der Junge hatte eine Handverletzung, ein Finger war fast gespalten – und er kam mit dieser Verletzung jeden Tag den weiten Weg ganz allein zu uns gelaufen, zum Verbandwechseln.
Hattet ihr genügend Verbandsmaterial mit?
Verbände, Antibiotika, Desinfektionsmittel – das hat alles gereicht, nur mit dem Nahtmaterial sind wir an Grenzen gestoßen. Da bin ich mal vier Stunden zu Fuß unterwegs gewesen, um noch ein paar Nähte aufzutreiben. Ein bisschen haben wir von einem polnischen Sanitätsteam bekommen, den Rest aus einem lokalen Krankenhaus.
Waren außer euch und den Polen noch mehr Rettungsteams in der Gegend?
Ja, es gab einige Teams. Aber die meisten sind herumgezogen – haben mal in einem Dorf einen Tag lang genäht und verpflastert, dann ging´s weiter ins nächste Dorf und es ist keiner mehr dagewesen, der sich um die Verletzung kümmert. Aber sowas macht wenig Sinn. Wenn der Verband nicht gewechselt wird und der Patient tritt einmal in ein Schlammloch, kann man den Heilungsprozess eigentlich vergessen. Und das waren nicht bloß einheimische Truppen, die so operiert haben, sondern auch internationale Helfer. Zu uns kam mal ein Kind mit schweren Verbrennungen, das in einem benachbarten Sanitätslager behandelt worden war – und die Wunden sahen eher schlechter als besser aus. Die Kapazitäten hätten ausgereicht, aber die Hilfe war einfach nicht vernünftig organisiert.
Der Alpinclub sammelt weiter Spenden, wie geht es nach eurer Heimkehr jetzt mit dem Rettungscamp weiter und was kommt danach?
Medizinisch haben wir getan, was wir konnten – für weitere Maßnahmen brauchen wir ein bisschen mehr Vorbereitungszeit. Das Camp ist abgebaut. Unser Zelt, das restliche Verbandsmaterial, die Medikamente und Desinfektionsmittel haben wir einem lokalen Gesundheitshelfer dagelassen und ihm auch gezeigt, wie man Fäden zieht. Das bekommt er alleine hin. Klar ist, dass unsere Hilfsaktion damit nicht endet. In Pakistan haben wir uns damals nach der Soforthilfe für den Wiederaufbau im Bildungsbereich engagiert – das bietet sich auch in Gunsakot an. Im Dorf gibt es zwei Schulen, die total zerstört wurden. Zum Verwaltungsleiter haben wir schon Kontakt – aber wenn, dann wollen wir kein Provisorium, sondern was Ordentliches bauen, aus Stahlbeton. Dafür muss man Material transportieren, und das ist in der Monsunzeit nicht möglich. In zwei Monaten, wenn der Monsum vorbei ist, haben wir auch einen konkreten Plan, wie es weitergeht.
Nepal war immer ein Sehnsuchtsort für Bergsteiger und Abenteuerreisende. Wird es das je wieder sein?
Ich hoffe sehr. Die Berge sind nicht kaputtgegangen. Und die Leute kamen doch im Wesentlichen wegen der Berge. Man darf angesichts der schlimmen Bilder auch nicht vergessen, dass einige Landesteile gar nicht betroffen sind. Den Annapurna-Trek kannst du immer noch machen, und es gibt auch noch Hotels in Kathmandu, die funktionieren. Da wo wir waren, sind zwar die Bar und alle Gläser darin zu Bruch gegangen – aber die Gebäudestruktur war in Ordnung. Klar sind einige Kulturstätten kaputt, trotzdem gibt es in diesem Land noch so vieles zu sehen. Das Feeling, das von Nepal ausgeht, ist nicht zerstört.
Die Menschen in Nepal benötigen unsere Hilfe. Bitte unterstützt den Wiederaufbau im Himalaya!
Aktuelle Infos zur Spendenaktion und zu den Hilfsprojekten des Alpinclubs Sachsen findet ihr –> hier
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