Eine Erzieherin aus Sachsen macht sich allein auf den Jakobsweg – 3000 Kilometer weit. Kurz vor Weihnachten will Bruni Hubert in Spanien die Atlantikküste erreichen: Kap Finisterre, das Ende der Welt. Hält sie das durch?
Bequemere Menschen würden sich vielleicht im Bad einschließen, eine Runde durch den Stadtpark joggen oder mit einer Knoblauchfahne in die Sauna gehen. Denn eigentlich wollte Bruni Hubert nur „mal allein sein“. Stattdessen hat die Erzieherin aus Görlitz Anfang Juli drei Paar Socken, zwei Hosen und ihren Schlafsack in einen Rucksack gepackt, dem Job und der Familie Lebewohl gesagt und ist losgewandert – allein, Richtung Südwesten, soweit die Füße sie tragen. „Tue erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche“, lehrt der heilige Franziskus in einem seiner berühmten Aphorismen. Bruni hat sich den Satz ins Tagebuch geschrieben. Er wird sie auf dem Jakobsweg bis ans „Ende der Welt“ begleiten, nach Kap Finisterre an der spanischen Atlantikküste – 3000 Kilometer weit.
Wir begegnen uns in Skassa, einem winzigen Dorf im Landkreis Meißen. Bruni sitzt unter grünen Apfelbäumen im Garten des Pfarrhauses, das gleichzeitig als örtliche Pilgerherberge fungiert: eine Frau Anfang 50 mit wachen, lebendigen Augen und kurz geschnittenen Haaren, die ihrem Gesicht etwas Hartes verleihen, das nicht so recht zu ihrem unbekümmerten Wesen passen will. Während wir uns unterhalten, futtert sie mit sichtlichem Appetit eine Tupperdose Haselnüsse und Rosinen leer. Der Körper braucht Kalorien nach den Strapazen des Weges. Fünf Tage ist sie schon unterwegs, 126 Kilometer. Kaum der Rede wert, wenn man bedenkt, was noch vor ihr liegt.
Das Notwendige hat Bruni Hubert 32 Jahre lang getan. Sie war 18, als ihre erste Tochter geboren wurde. Seitdem hat sie gearbeitet und Kinder betreut – ihre eigenen und die fremder Leute. 17 Jahre lang war sie als Tagesmutter selbstständig, hat 120 kleinen Füßen geholfen, ihren Weg zu finden. Aber in den letzten zehn Jahren hat sie insgeheim von ihrem eigenen Weg geträumt – vom Jakobsweg. Als die Familie schließlich von Dresden nach Görlitz umzog und ausgerechnet eine Wohnung auf der Jakobstraße bezog, kam es Bruni wie ein Zeichen vor. Der Traum wurde zu mächtig. Dem offenen Horizont entgegen zu gehen, sich einem Weg hinzugeben und ihn ohne Umkehr und Reue zu Ende zu gehen, diese Sehnsucht war stärker geworden als die Bindung an alles Vertraute oder der Wunsch nach Geborgenheit – ja sogar stärker als die Liebe. Bruni ist nicht etwa auf der Flucht vor einem Leben oder einer Beziehung, die ihr zu eng wurden. Beim Wandern streift sie ihren Ehering zwar ab, weil ihr sonst die geschwollenen Finger schmerzen. Aber der Ring drückt sie nicht. „Ich habe ein schönes Leben zu Hause gelassen“, sagt die Pilgerin.
Im Grunde genommen gab es keinen zwingenden Grund loszulaufen. Sie konnte es einfach, weil sich nach den Jahren voller Notwendigkeiten schließlich ein Fenster zu ihren Träumen öffnete: Die eigenen Kinder sind inzwischen erwachsen, der Jüngste hat gerade sein Abitur beendet. Im Januar wurde die Rückzahlung einer Lebensversicherung fällig – und schließlich gab sich auch ihr Mann geschlagen und ließ sie ziehen. Jetzt tut Bruni das Mögliche.
Obwohl es alles andere als bequem ist. Schon jetzt – nach kaum mehr als den ersten Schritten – ist ihr klar, dass der Jakobsweg kein Spaziergang wird. „Die ersten zehn Kilometer bin ich bloß geschwebt“, erzählt sie, „aber schon nach 20 Kilometern fing es an zu drücken“. Der Rucksack erinnert sie bald schmerzhaft an die Lasten des Daseins. Die ersten Blasen kommen am zweiten Tag, am dritten spürt sie jeden Knochen im Leib. In Bautzen schickt sie eine Jacke und ihre Isomatte nach Hause. Ein Fehler, wie sich bald zeigen wird, denn manche Pilgerherbergen scheinen darum zu wetteifern, sich im Standard gegenseitig zu unterbieten. Mal gibt es statt einer Dusche nur ein kümmerliches Waschbecken, so klein, dass nicht mal Brunis Fuß hineinpasst. In einer anderen Herberge sieht die Matratze so aus, als habe schon Napoleon auf seinem Rückzug aus Russland darauf geschlafen. Mit ihren wenigen Habseligkeiten – von der Regenjacke bis zur Zahnbürste – ist ihr Rucksack bereits 15 Kilo schwer, trotzdem will sie ihre Isomatte wiederhaben. An einer Waschmaschine kommt sie frühestens in neun Tagen wieder vorbei – in Leipzig. Pilgern ist kein Wellnessurlaub.
Den Jakobsweg nennt Bruni inzwischen: „mein schönes Hamsterrad“. In einschlägigen Pilgerführern lernt man, was die wirklichen Probleme des Weges sind: nicht die Überquerung der Pyrenäen oder die kargen Weiten der Iberischen Meseta, sondern Bettwanzen, verdreckte Duschen, kulinarische Einöden – und schnarchende Zimmergenossen. Eine von Brunis Freundinnen hatte dafür wohl einen sechsten Sinn und schenkte ihr zum Abschied neun selbstgetöpferte Schmunzelgesichter für die Durststrecken und die harten Etappen des Weges. Acht davon will Bruni verschenken, an Leute, denen sie unterwegs begegnet – „die cool sind oder traurig“. Aber eine von den kleinen Grinsebacken soll die Reise bis fast zum Schluss mitmachen, denn der Tradition gemäß legen Jakobspilger auf dem höchsten Punkt ihrer Wanderung durch Spanien, am legendären Cruz de Ferro, einen Stein nieder – und befreien sich damit symbolisch von allen seelischen Lasten.
Hält Bruni das durch? Sie habe beim Wandern manchmal „Luftlöcher im Kopf“, sagt sie. Wälder, Wiesen und Dörfer ziehen an ihr vorbei – stundenlang, tagelang, ohne dass irgendetwas Besonderes geschieht. Das ist vielleicht die schwierigste Lektion, die ein euphorischer Pilger auf dem bis zur Unkenntlichkeit mystifizierten Jakobsweg zu lernen hat. Bruni hat sie schon gelernt. Sie erwartet keine Wunder.
Die Abendsonne legt einen goldenen Glanz auf die Dächer von Skassa. Es wird kühl, Bruni zieht den Reißverschluss ihrer Softshelljacke bis zum Kinn hoch. Wie viele Pilger mögen hier schon durchgezogen sein – auf der Via Regia, einer der unzähligen europäischen Jakobsweg-Verzweigungen? Wie viele haben es geschafft – oder sind umgekehrt?
Vom östlichsten Zipfel Deutschlands bis zum westlichsten Spaniens, das ist mehr, als ein Tagebuch fassen kann. Irgendwann wird Bruni ihre Notizen mitsamt dem heiligen Franziskus nach Hause schicken müssen. Aber man spürt einfach, dass sie das Unmögliche am Ende trotzdem schaffen wird: Wenn sie nach 3000 Kilometern und 170 Tagesetappen kurz vor Weihnachten den Atlantik erreicht, ihre Wanderschuhe auszieht und die Füße ins Wasser hält, wird sie vermutlich staunen, woher sie die Kraft für die sagenhafte Strecke genommen hat. Was wird Bruni Hubert dann tun? Heimkehren in ihr altes Leben? Etwas völlig Neues beginnen? Wenn sie am Ziel angekommen ist, wird sie eine Antwort auf diese Frage finden müssen. Und eine Entscheidung treffen. Erst dann beginnt ihr Jakobsweg wirklich.
Wer Bruni auf ihrer langen Pilgerschaft begleiten möchte, kann ihrem Blog folgen. Hier geht´s lang >>> brunipilgert.blogspot.de
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