Rund die Hälfte aller Deutschen geht gelegentlich oder regelmäßig wandern. Doch wo kommt dieser Drang zum Loslaufen eigentlich her? Brauchen wir einfach einen Ausgleich zu unserem naturfernen, bewegungsarmen Alltag? Oder hat das alles viel tiefere Wurzeln?
Titelbild: Sunny Tietze
Text: Hartmut Landgraf
Die Sonne brennt mit erbarmungsloser Macht auf die afrikanische Savanne nieder. Die Erde ist so staubig und voller Risse wie eine alte Elefantenhaut. Im spärlichen Schatten einer Schirmakazie haben vier Menschen Schutz gesucht – ein Mann, eine Frau, ein Junge und ein kleines Mädchen. Es ist ein Moment der Rast am letzten Baum zwischen der vertrauten und einer völlig neuen Welt. Ein letztes Innehalten vor ihrer langen Reise ins Ungewisse. So könnte er ausgesehen haben, dieser Moment vor 1,9 Millionen Jahren, als unsere Vorfahren Afrika verließen.
Vielleicht verlief dieser epochale Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte aber auch viel weniger dramatisch. Sehr viel wahrscheinlicher war es ein vorsichtiges aber stetiges Vorwärtsdringen kleiner Gruppen auf der Suche nach Nahrung und neuen Lebensräumen, mit vielem Hin und Her, Irrungen und Wirrungen – eine unsäglich langwierige Wanderung über Abertausende von Kilometern und Generationen, die uns letztlich bis in die entlegensten Winkel der Welt geführt hat. Wie dem auch sei – und darin sind sich alle Forscher einig – diese Reise steckt uns bis heute in den Knochen.
Obwohl wir heute sehr viel weniger, auf andere Art und aus anderen Gründen in Bewegung sind: Stillsitzen ist anscheinend nicht unser Ding, das lässt sich wissenschaftlich belegen. Zum Beispiel anhand der bundesweiten Verbrauchs- und Medienanalyse (VuMA) 2016: Demnach gehen 46 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung (ab 14 Jahre) in ihrer Freizeit wandern – 32 Millionen Menschen. Älteren Erhebungen zufolge waren es vor einigen Jahren sogar noch deutlich mehr als die Hälfte – der in den Medien oft zitierte Wander-Boom der 90er-Jahre scheint sich also in jüngster Zeit wieder etwas abzukühlen, die schiere Zahl der Wanderlustigen ist aber dennoch beeindruckend. Das gibt nicht nur Wissenschaftlern, sondern selbst manchem analytisch veranlagten Wanderfreund zu denken, schien doch dem Wandern Langezeit die etwas angestaubte Folklore von Kniebundhosen und Gamsbärten anzuhaften – so richtig schick und jung wurde es erst wieder in den letzten 25 Jahren, als die Outdoor- und Tourismusindustrie darin einen riesigen Markt zu wittern begann und anfing, die Sache entsprechend zu inszenieren. Am meisten aber verwundert wohl die Frage, warum wir uns die Strapazen einer Wanderung überhaupt antun: Sonntag für Sonntag – wenn die Couch schöne Augen macht – wir aber rucksackbepackt und keuchend bei Wind und Wetter bergauf stapfen. Und alles, was wir am Ende des Tages von unserer Tour mit heimbringen, sind durchgeschwitzte Sachen, Dreck an den Sohlen, Hunger und Durst… Vielleicht hatten wir zwischendurch mal ein paar ganz nette Ausblicke in die Landschaft. „Was soll das sein?“ hinterfragt FAZ- Redakteur Dirk Schümer in seinem Wanderbuch „Zu Fuß“ die Gründe der Plackerei. „Eine militärische Übung? Eine Bußwallfahrt? Hat der Arzt es verschrieben? Ist das Benzin so teuer?“
Vielleicht können wir gar nicht anders
Die Wissenschaft hat inzwischen eine ganze Reihe guter Gründe für unseren erstaunlichen und im Alltag zumeist wenig offensichtlichen Bewegungsdrang aufgezeigt – vom Naturerlebnis über Stressabbau und Geselligkeit bis hin zu Bildung und spirituellen Motiven, wunderbar zusammengefasst von Rainer Brämer auf der Internetseite wanderforschung.de. Abgesehen vielleicht von der Pilgerbewegung im Mittelalter wurde Wandern aber wohl erst Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts für eine große Zahl von Menschen zum Selbstzweck, zuvor war das Gehen zu Fuß für alle, die sich weder Pferd noch Wagen leisten konnten, schlicht eine Notwendigkeit. „Die Menschen waren schon immer unterwegs – um neue Jagdgründe zu erschließen, Waren zu transportieren, Arbeit zu suchen, Weidegründe für das Vieh zu finden oder Krieg gegen benachbarte Völker zu führen“, schreiben Yvonne Deck und Christoph Teves in einem Feature zur WDR-Dokumentationsreihe Planet Wissen. Als die Notwenigkeit aber verschwindet und das Wandern trotzdem munter weitergeht, scheint darin so etwas wie die tiefste Wurzel des Phänomens sichtbar zu werden: Vielleicht können wir gar nicht anders, als immer wieder aufzubrechen.
„Mobil zu sein, ist die normale menschliche Lebensweise“, glaubt der Archäologe Jens Beutmann vom Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz. „95 Prozent der Menschheitsgeschichte waren wir alles andere als sesshaft.“ Es gibt Theorien darüber, dass der aufrechte Gang, für den wir anatomisch mit unserem großen Gesäßmuskel, der gebogenen Wirbelsäule, den strammen Beinen und stabilen Füßen so wunderbar ausgerüstet sind, Folge eines Klimawandels vor acht Millionen Jahren war. Damals kühlt die Welt ab, die Polkappen und Gletscher beginnen zu wachsen, auch in Afrika wird es kälter – und vor allem trockener. Besonders im Osten des Kontinents lichtet sich der immergrüne Tropenwald und verwandelt sich allmählich in einen Flickenteppich aus Hainen, Galeriewäldern und Grasland. Für unsere frühen Vorfahren bedeutet diese Entwicklung, dass sie immer öfter aus den Baumkronen hinab auf die Erde steigen müssen, um vorwärts und an ihre Nahrungsquellen zu kommen. Doch es vergehen noch sechs Millionen Jahre, bis sich mit dem Homo ergaster erstmals ein großer und kräftiger Vorfahr des modernen Menschen aufmacht, um von Afrika aus die restliche Welt mit den Füßen zu erobern. In Hunderttausenden von Jahren erreichen diese Urmenschen nicht nur das Mittelmeer, sondern auch entlegene Teile Asiens.
Die Menschheitsgeschichte – ein ständiges Kommen und Gehen
Von seiner Physis her sei der Homo ergaster ein perfekter Langstreckenläufer gewesen, schreibt Ralf Berhorst in einem Beitrag für Geo kompakt. „Wahrscheinlich ist er es gewohnt, vertraute Landstriche zu verlassen, sich auf den Weg zu machen, um neue Gegenden zu durchstreifen und so seinen Aktionsradius zu erweitern.“ Neben Nahrungsknappheit, Dürreperioden, den anatomischen Fähigkeiten – vielleicht sogar Neugier – können bei den Nachfahren des Homo ergaster, z.B. den als Jäger und Sammler lebenden Populationen des Neandertalers und Homo sapiens auch wandernde Beutetierherden ein Grund für den Auszug aus Afrika gewesen sein, heißt es im Neanderthal-Museum in Mettmann, wo gerade fürs kommende Jahr eine neue Ausstellung zu diesem Thema vorbereitet wird. Was auch immer es war, das beständige In-Bewegung-Sein wurde in Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen von Jahren zu unserer zweiten Natur und einem wichtigen Abschnitt in unserem evolutionären Bauplan. „Die Fortbewegung zu Fuß ist uns in die Gene geschrieben“, sagt Archäologe Jens Beutmann.
Vielleicht macht uns das nicht automatisch zum neuzeitlichen Rucksack- und Bergwanderer, Trekker, Pilger, Nordic Walker oder Geo-Cacher – hier kommen viele Impulse und ungestillte Sehnsüchte des modernen Lebens hinzu. Aber womöglich wurden wir auf diese Weise zu rastlosen Wesen, die immer neue Ziele, Herausforderungen und Abenteuer suchen. Frühe Spuren unserer Rastlosigkeit finden sich überall auf der Erde – auch im Elbsandsteingebirge. Auf böhmischer Seite wurden bei Ausgrabungen Hinterlassenschaften von steinzeitlichen Lagerplätzen entdeckt. Gruppen von Jägern und Sammlern müssen das Gebiet einst durchstreift haben. Man fand Reste von Feuerstellen, u.a. eine 10.000 Jahre alte Pfeilspitze und Feuerstein-Abschläge. Auch in der Sächsischen Schweiz sind solche Fundorte bekannt. Rund 3.000 Jahre später dringen in der sogenannten neolithischen Revolution erstmals sesshafte Kulturen von Ackerbauern und Viehzüchtern vom Balkan bis nach Sachsen vor. In der Spätantike im 4. und 5. Jahrhundert setzt mit der Völkerwanderung eine Abwanderung ein, 200 Jahre lang ist Sachsen fast vollkommen menschenleer, bis im 7. Jahrhundert slawische Stämme nachrücken. Zur Zeit der sogenannten Ostkolonisation im 12. und 13. Jahrhundert macht günstiges Klima plötzlich die Besiedlung ganzer Landstriche im Erzgebirge und in der Lausitz möglich, die vorher vermutlich noch nie bewohnt waren. Bis hinein in die kleinräumige Regionalgeschichte herrscht also ein ständiges Kommen und Gehen.
Noch einmal zurück nach Afrika und der Urmenschen-Familie unter der Schirmakazie. Wohin mögen sie damals wohl gezogen sein? Fanden sie, wonach sie suchten – oder fanden sie nichts als trostlose Einöden, Hunger und Leid? Was am Ende eines Weges auf uns wartet, ist nicht immer vorhersehbar. Dass uns trotzdem irgendetwas antreibt ihn zu gehen, ist vielleicht – banal gesagt – nur menschlich. Aber es ist womöglich gar keine so schlechte Idee, vorher noch mal einen Moment lang unter einem Baum innezuhalten.
Wieviel Müll haben unsere Vorfahren eigentlich auf ihren Wanderungen hinterlassen?
Ich bin überzeugt, Du/Ihr bekommt einen, wie immer, interessanten Beitrag zu dieser leidigen Thematik hin.
Wie viel Müll hinterließen unsere Vorfahren auf Ihren Wanderungen rings um die ganze Welt? Offenkundig mehr als genug, um uns heute ein Bild von ihrem Leben machen zu können.
Am Karfreitag gingen meine Frau und ich den Heeselichter Rundweg ab. Nachfolgende Generationen können sich nun ein Bild von unserem Überfluss machen, weil viele „NATURVERBUNDENE“ Zeit-/wandergenossen der Meinung sind, den heutigen hinterlassenen biologisch schwer abbaubaren Verpackungsmüll einfach achtlos auf den Weg fallen lasssen zu können. Frei nach dem Motto, die Entsorgung ist mit dem Kauf der Taschentücher oder der Schokolade schon bezahlt. Sicher ist die Androhung zum zwangsweisen Waldaufräumdienst wenig schrecklich, aber wenn ich eine mittelprächtige Fotoausrüstung und ein oppulentes Picknick durch den Wald schleppe, kann es kein Problem sein, einen Müllbeutel mitzunehmen, der nachher selber halb so groß und schwer ist, wie der Rucksack vorher und zu Hause sekundenschnell in die Tonne passt.
Kaum anzunehmen, dass unsere Nachfahren solche Altforderen für besonders cool halten, die dafür sorgten, dass Nationalparkranger den Müll anderer wegräumten, statt die noch vorhandene Natur zu pflegen und zu schützen.
Auf das alles hat schon x-mal je hingewiesen, auch Du/Ihr vom Sandsteinblogger, deren Seiten ich sehr,sehr schätze, aber vielleicht findet Ihr einen erfolgreicheren Weg und Partner, dafür ein Bewusstsein zu wecken.
Ganz liebe Grüße
Peter
Wie sollen sich denn in 10.000 Jahren unsere Nachgeborenen ein Bild von uns und unserem Leben machen wenn wir ihnen nichts zurücklassen;-)
Bei einer Vorwanderung im Thüringer Wald warfen unmittelbar vor mir zwei ca. 10 Jahre alte Jungen das Einwickelpapier ihrer Verpflegung seitwärts in die Büsche. Ich bat sie deutlich das wieder aufzuheben. Da drehte sich der davor gehende Vater (?) um und belehrte mich lautstark sinngemäß: „Sie haben meinen Kindern nichts zu sagen! Die können tun was sie wollen!“ Natürlich hoben sie das Papier nicht auf , sondern grinsten mich an.