Das Polenztal ist der Inbegriff des Elbsandsteinfrühlings. Die Natur hier gehört zum Wertvollsten, was die Sächsische Schweiz zu bieten hat. Trotzdem spielt sie verkehrte Welt. Und manches können selbst Experten nicht erklären.
Die Hainbuche lebt in einer außergewöhnlichen Beziehung. Gegen ihre Gewohnheit hat sie sich mit der Fichte eingelassen. Normalerweise liegen Welten zwischen dem Paar, denn ihre Ansprüche und Lebensräume könnten unterschiedlicher kaum sein: Die Fichte mag es feucht und kühl. Hainbuchen hingegen sind von Natur aus eher wärmebedürftig. Die Fichte ist ein echtes Nordlicht, die Hainbuche in Mitteleuropa und weiter südlich zu Hause, Richtung Norden kam sie über Dänemark und Südschweden nie hinaus. Nur eines verbindet die Zwei wirklich: In der prallen Sonne fühlen sich beide nicht besonders wohl. Im Polenztal gibt es Schatten mehr als genug. Und mittendrin – in der drei Kilometer langen Klamm zwischen Polenztalschänke und Waltersdorfer Mühle – leben Hainbuche und Fichte so einträchtig nebeneinander, als wären sie alte WG-Kumpel. Das aber wundert Holm Riebe.
Wenn man mit einem Botanik-Experten wie ihm ein Stück ins Grüne wandert, sieht man den Wald bald mit anderen Augen. Riebe ist im Nationalpark Sächsische Schweiz zuständig für den Arten- und Biotopschutz – kaum jemand kennt die Pflanzenwelt des Elbsandsteingebirges besser als er. Mitte April im Polenztal. Der Frühling bricht aus allen Knospen. Munter und mit jugendlicher Kraft sprudelt der Bach zwischen Steinen und Blöcken dahin. Er wäscht das braune Herbstlaub von den Ufern fort, trägt tote Äste und Zweige zum Tal hinaus – macht überall reinen Tisch mit den Resten verwelkten Lebens und schafft Platz für Neues. Die Luft riecht würzig nach Erde und frischem Grün. An den Bachrändern sind die Märzenbecher bereits wieder verblüht, stattdessen leuchten dort jetzt wunderhübsche weiße Sterne im Gras – Buschwindröschen.
Berg und Tal vertauschen die Rolle
Holm Riebe ist diesen Weg schon oft gegangen. Manchmal im Zuge seiner Arbeit. Oft einfach nur, um den Kopf frei zu kriegen. Das Polenztal ist der Inbegriff des Elbsandsteinfrühlings. Die Natur hier gehört zum ökologisch Wertvollsten, was die Sächsische Schweiz zu bieten hat. Forstwirtschaftlich wird die Klamm schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt – oben in den Felsen auf der östlichen Talseite befindet sich Sachsens ältestes Naturschutzgebiet. Wo ihm der Mensch aber die Freiheit lässt, denkt sich der Wald allerlei Überraschungen aus. Er erschafft Lebensräume und Gemeinschaften, die normalerweise gar nicht vorkommen – die Hainbuchen-Fichten-Gesellschaft zum Beispiel. Selbst Experten wie Riebe können nicht alles erklären. „Die Natur ist immer vielfältiger als die Systeme, in denen wir denken“, sagt er.
Die Polenzklamm sticht noch in anderer Hinsicht heraus: Sie ist eine der wenigen Schluchten im Elbsandsteingebirge, wo man ein Phänomen beobachten kann, das Fachleute als Vegetationsumkehr bezeichnen – zu gut Deutsch: Die Natur steht Kopf. Was normalerweise oben in den Bergen wächst, hat sich am tiefsten Grund angesiedelt und umgekehrt. Kiefern zum Beispiel sind von Natur aus eher Flachlandbewohner, Fichten und Tannen hingegen in den oberen Berglagen zu Hause. In der Sächsischen Schweiz ist es genau umgekehrt. Hoch oben, wo die Sonne das bisschen Humus auf den Felsriffen im Sommer zu einer harten Kruste bäckt, wachsen die ältesten natürlichen Kiefernwälder Sachsens. Und unten im Tal verharrt unbekümmert zu ihren Füßen die Fichte und sieht da am gesündesten aus, wo sie nicht allzu hoch hinaus muss. Grund dafür ist das feuchtkühle Klima, das in den Schluchten vorherrscht und den Bedingungen in höheren Lagen nahe der Baumgrenze ähnelt.
Dieses „Kellerklima“ hat eine einzigartige Pflanzenwelt hervorgebracht. So manches kälteliebende Gewächs, das anderswo in Sachsen schon seit Jahrtausenden verschwunden ist, hat im Elbsandsteingebirge seine allerletzte Nische gefunden. Noch immer sind hier echte Eiszeitrelikte wie das Gelbe Veilchen zu Hause. Oder nordische Moorpflanzen wie der Sumpfporst – in Bergsteigerkreisen auch als „Sächsisches Edelweiß“ bekannt. Um Pfingsten herum leuchten seine schneeweißen Blütendolden vielerorts auf den Nordseiten der Sächsischen Schweiz – so auch an den Talkanten der Polenzklamm. Unten, wo der kalte Atem des Bachs durch den Grund zieht, gedeiht wiederum eine reiche Vielfalt an Moosen und Pilzen. An den Ufern und Steilhängen schimmern die mächtigen Stämme alter Weißtannen silbrig zwischen den Fichten. Hier in der Schlucht hat sich die sachsenweit vom Aussterben bedrohte Baumart gehalten. Jede zehnte der noch übrig gebliebenen Alttannen in Sachsen steht im Polenztal – insgesamt rund 200 Bäume.
Neben solchen ökologischen Schätzen findet man hier aber auch die ganz kleinen Wunder der Natur, die eigentlich gar nichts Besonderes sind. Inzwischen sind wir ein ganzes Stück am Bach entlang gewandert. Wir freuen uns über die Stille und einen schon halb verfaulten Buchenstamm am Ufer – das Alter hat ihn gebrochen, schwarze Baumpilze kleben wie festgebackene Fladen am Stumpf. Unten ist er beinahe so dick wie eine dorische Säule. Holm Riebe liebt solche Baum-Ungetüme. Er kennt Urwälder in den Karpaten, wo viele Stämme so aussehen – wo auch die schlanke Fichte groß und dick wird, bis sie an ihrem Fuß einen Durchmesser von fast zwei Metern erreicht. Im Polenztal kehrt das Urwüchsige erst ganz allmählich zurück. „Wäre interessant, wie es hier in 300 Jahren aussieht“, sagt der Naturschützer. Plötzlich bleibt Riebe vor einem moosbärtigen Baumstubben stehen. Auf dem grünen Holz leuchten zarte, weiße Blüten: Waldsauerklee. Eigentlich sei das eine Null-Acht-Fünfzehn-Pflanze, bemerkt Riebe. Das sagt der Fachmann. Der Naturliebhaber Holm Riebe aber erliegt dem Zauber der kleinen Blüten, kniet sich davor ins Gras und macht ein Foto.
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Bereits erschienen sind:
Teil 1 – Wild und Wanderbar | Gewaltige Tafelberge, märchenhafte Schluchten, wilde Natur. Mitten in Deutschland. Für viele Outdoorfreunde ist die Sächsische Schweiz noch eine Entdeckung. >>> Zum Beitrag
Teil 2 – Die Welt zu Füßen | Rund die Hälfte aller Deutschen geht gelegentlich oder regelmäßig wandern. Doch wo kommt dieser Drang zum Loslaufen eigentlich her? >>> Zum Beitrag
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