Vor rund 200 Jahren entstand in der Sächsischen Schweiz ein Bild, das Kunstkennern bis heute Rätsel aufgibt – und romantisch veranlagte Menschen in der ganzen Welt begeistert. Seinen Sinn kann man in der Landschaft erfahren. Oder in sich selbst suchen.
Dieser eine Moment. Ich schaue ihn an und verliere mich darin. Er ist zeitlos, uferlos. Er IST einfach. Zu meinen Füßen erwacht die Welt in einem Meer aus Nebel und Licht – im Osten schickt die Sonne ihren ersten Gruß über die blassblauen Kuppen des böhmischen Mittelgebirges, und kein Laut stört die Stille. Tagesanbruch auf dem schönsten Felsen der Sächsischen Schweiz: auf dem Lilienstein. Es spielt keine Rolle, wie oft ich das schon erlebt habe oder noch erleben werde. Ich weiß es nicht. Jetzt bin ich da. Jetzt.
Vermutlich hatte vor rund 200 Jahren ein berühmter Wanderer in der Sächsischen Schweiz ein ganz ähnliches Erlebnis – ein Stück weiter östlich gegenüber vom Zirkelstein: Caspar David Friedrich. 1813 suchte der Maler aus Abscheu und Verzweiflung über das Elend der Befreiungskriege monatelang Zuflucht in Krippen. Ganz in der Nähe entstanden die ersten Skizzen für sein bekanntestes Werk, das Kunsthistorikern bis heute Rätsel aufgibt und Naturliebhaber auf der ganzen Welt begeistert: für den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Auf romantisch veranlagte Menschen wirkt dieses Bild wie ein Spiegel. Man kann seinen Zauber in der Landschaft erfahren. Oder in sich selbst suchen. Für Caspar David Friedrich gehörte beides zusammen: Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Dieser Satz von ihm ging in die Kunstgeschichte ein.
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Wie viel Wirklichkeit steckt in diesem Gemälde? Wie viel davon ist Betrachtung? Frank Richter ist jemand, der sich an solchen Fragen jahrelang reibt und abarbeitet. Der Dresdner ist Landschaftsfotograf, Autor mehrerer Bücher und Bildbände übers Elbsandsteingebirge, und beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit den Malern in der Sächsischen Schweiz und ihren Werken. Er gilt als profunder Friedrich-Kenner und war einer der maßgeblichen Initiatoren, als vor zehn Jahren der Malerweg eingerichtet wurde – nur ein Jahr später bereits von den Lesern des Wandermagazins zum schönsten Wanderweg Deutschlands gekürt. Streckenweise in den historisch verbrieften Fußstapfen von Landschaftsmalern wie Caspar David Friedrich, Johann Christian Clausen Dahl, Ludwig Richter und anderen zieht sich die insgesamt 112 Kilometer lange Route bergauf, bergab beiderseits der Elbe durch die Sächsische Schweiz, nimmt unterwegs alle herausragenden Aussichten und Landschaftsperlen mit – und ruft einem nicht nur mit ihren 400 Wegweisern beständig in Erinnerung, wie eng Naturerlebnis und Kunst bisweilen zusammenhängen. Doch mit dem Wanderer über dem Nebelmeer hat selbst Frank Richter, der die Sächsische Schweiz seit einem halben Jahrhundert wie seine Westentasche kennt, Deutungs-Probleme.
„In keinem seiner Bilder hat Friedrich die Landschaft so gemalt, wie sie ist“, sagt der Experte. Trotzdem wird auch nichts frei erfunden – eher ist das Gegenteil der Fall. Skizzen belegen, wie genau der Maler seine Umgebung studierte, welchen Stellenwert auch kleinste Details wie ein einzelner Ast für ihn besaßen. Doch in seinen Bildern fließen die äußere und innere Wirklichkeit ineinander, und über sein berühmtestes Werk hat sich der Künstler offenbar mit keinem Wort geäußert – falls doch, so ist davon zumindest nichts überliefert. Weder über den überlebensgroßen Wanderer im Vordergrund, noch über die dramatische Landschaft dahinter. Vieles daran ist unstimmig: Proportionen und Blickwinkel passen nicht zueinander. Gamrig, Rosenberg und Zirkelstein stehen in einer ungewöhnlichen Beziehung. Zwei andere Gipfel lassen sich überhaupt nicht zuordnen. Die Experten stochern buchstäblich im Nebel.
An einem Berghang bei Schöna zeigt mir Frank Richter einen der wenigen sicheren Hinweise. Mitten im Wald ragt dort ein übermannshoher Sandsteinblock wie ein schiefer Zahn aus der Erde. Unten zwischen den Bäumen verstecken sich ein paar Einfamilienhäuser hinter Vorhängen aus Ästen und maigrünem Laub. Diesen Block hat der Maler auf seinen Wanderungen 1813 als erstes gezeichnet und später wie ein Podest in der Mitte des Bilds platziert. Frank Richter wirft seine lederne Umhängetasche ins Gras und kraxelt dem Zahn auf die Spitze. Oben steht er nun – mit dem Rücken zu mir, den Arm in die Seite gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet – und sieht dem weltberühmten Landschaftsgucker gar nicht so unähnlich. Ein lebender Beweis. Man muss den Block aber für sich betrachten, ohne den Mann und die Landschaft dahinter. Letztere ist schön – aber nicht so spektakulär wie ihr romantisches Abbild: Gegenüber sitzt der Kopf des Zirkelsteins wie ein kantiger Schildbuckel auf einer Bergkuppe, bei Caspar David Friedrich hat der kleine Tafelberg schwindelerregende Steilwände wie der sagenhafte Devils Tower im US-Bundesstaat Wyoming. Und statt mystischer Nebelwogen ziehen über unseren Köpfen nur ein paar versprengte Wolkenschafe über den frühlingsblauen Mittagshimmel. Heiterer Sonnenschein statt schwerer Romantik.
Die Sächsische Schweiz kennt beides. Und in beidem wohnt auf wundersame Weise auch ein Stück Stille. Warum aber kommt das Bild mit so viel Pathos daher? Was wollte Caspar David Friedrich damit sagen? Ein einsamer Mann am Abgrund. Nur einen Schritt weiter – und er würde in die gestaltlose Unendlichkeit fallen. Zu seinen Füßen wehen die Nebel wie Rauchfahnen über ein verstummtes Schlachtfeld. Und in der Ferne, umhüllt von blassem Dunst – erhebt sich ein dreieckiges Bergmassiv über der Horizontlinie. Drohend oder hoffnungsvoll? Todesahnung? Ein Gottessymbol vielleicht? Die Deutungsmöglichkeiten sind so weit und uferlos wie die Landschaft in Öl. Und nichts davon wäre falsch. Denn alles ist möglich in diesem Bild. Alles ist voller Sinn und von Belang – auch das Kleinste. Frank Richter gefällt diese Sicht auf die Natur. Eine Welt, die auch ohne unser Zutun ihre Ordnung hat. Das Düstere und Schwere der Romantik mag er nicht so, das Naturverbundene und Religiöse hingegen fasziniert ihn. „Was hat Friedrich gesehen – was siehst du?“ Solche Fragen findet der Dresdner unheimlich spannend. Er ist den Spuren des Malers von Dresden über die Sächsische Schweiz bis ins Riesengebirge gefolgt, hat dutzende Standorte und Motive gefunden, Skizzen, Quellen und Fachbeiträge ausgewertet. Ein immenser Berg Wissen. Doch es blieb lückenhaft. Der Wanderer blieb ein Rätsel. Frank Richter sieht in ihm einen Mann auf dem Gipfel des Lebens. Vielleicht ein bisschen sich selbst. „Sein Blick ist nach vorn gerichtet – in die Ferne, hinüber in eine andere Welt.“ Frank Richter ist 70 Jahre alt.
Ich sehe etwas anderes: Weite! Einen grenzenlosen Himmel voller Licht. Schaumkämme und Wellen soweit das Auge reicht. Einen Mann auf der Klippe – vor sich die Brandung des Lebens. Eine ferne Küste. Ich sehe es, höre es, kann es sogar riechen – das Meer. Meine Heimat. Und seine. Caspar David Friedrich wurde 1774 in Greifswald geboren.
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Bereits erschienen sind:
Teil 1 – Wild und Wanderbar | Gewaltige Tafelberge, märchenhafte Schluchten, wilde Natur. Mitten in Deutschland. Für viele Outdoorfreunde ist die Sächsische Schweiz noch eine Entdeckung. >>> Zum Beitrag
Teil 2 – Die Welt zu Füßen | Rund die Hälfte aller Deutschen geht gelegentlich oder regelmäßig wandern. Doch wo kommt dieser Drang zum Loslaufen eigentlich her? >>> Zum Beitrag
Teil 3 – Wunder der Klamm | Das Polenztal ist der Inbegriff des Elbsandsteinfrühlings. Die Natur hier gehört zum Wertvollsten, was die Sächsische Schweiz zu bieten hat. Trotzdem spielt sie verkehrte Welt. Und manches können selbst Experten nicht erklären. >>> Zum Beitrag
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