Das Team von MDR-Biwak unterwegs im eisigen Sibirien. Von einer Nacht auf dem Baikalsee mit düsterer Untergrund-Musik.
Von Thorsten Kutschke
Manchmal, wenn man im Büro sitzt und die Hummeln im Hintern schier durchdrehen wollen…, manchmal hilft in solchen Momenten ein Blick auf den Globus. Der steht direkt neben dem Schreibtisch und weckt nicht „nur“ Fernweh, sondern hält auch schöne Erinnerungen wach. An großartige Bergtouren oder an unvergessliche Road-Trips zum Beispiel – oder: an Zeltplätze, die man sein Leben lang nicht vergessen mag. Ob im Himalaya, in den Anden, auf Island oder in der marokkanische Sahara. Man hat sein Haupt schon an wahrlich wunderlich schönen Plätzen zur Ruhe gebettet. Jetzt ist einer dazugekommen – vielleicht der verrückteste von allen: Mitten auf dem zugefrorenen Baikalsee im tiefsten Sibirien.
Elbsandstein-Touren | Reisereportagen
Er ist und bleibt mein bester Freund, der knallrote „Yeti Denali“! Dicke fette Daune, eine Kapuze mit Eskimo-Format und im Fußende noch genügend Platz für Fotoapparat, Akkus, Schuhe. Für alles, was neben den Füßen eben unbedingt warm bleiben sollte. Es sind zwar „nur“ 15 Grad minus – wir hatten mit bis zu 30 gerechnet – aber wer will sich da beschweren? So wird’s schneller huschelig in der geliebten dicken Grunz-Tüte.
Eingeschlafen bin ich im Nu, kein Wunder eigentlich. 25 stramme und beschwerliche Kilometer sind wir heute marschiert, immer geradeaus, ein Ziel vor den Augen all die Zeit, das nicht näher kommen will. Das uns zu narren scheint wie eine Fata Morgana. Die sagenumwobene Insel Olchon im Baikalsee. Dort wollen wir hin, zu Fuß – übers Eis. Vom Westufer aus 65 Kilometer Luftlinie über den ältesten und tiefsten See der Erde.
Es sind aber nicht die schmerzenden Füße, die mich schnell wieder aus dem Schlaf schrecken lassen. Es ist ein merkwürdiges Geräusch… Schnarcht mein Zeltnachbar? Ich wende den Kopf: Nein, der liegt friedlich und lautlos auf der Seite, der Atem dampft ruhig in der eiskalten Luft. Es ist etwas anderes, es ist ein Grummeln, ein Rumoren, eine merkwürdige Musik, die irgendwie von unten kommt. Dazu plötzlich ein Knall, als habe 20 Meter von uns entfernt jemand eine der Kanonen auf der Festung Königstein abgefeuert.
Gruselige Geräusche aus der Tiefe
Ich bin hellwach, Stirnlampe an! Blick auf die Uhr – halb drei nachts. Noch ein Knall, diesmal weiter weg, dann wieder dieses Rumoren und Grummeln. Das ist es also, was uns Baikal-Reisende beschrieben haben, die genau wie wir im Winter hier waren. Nicht nur AM sondern AUF dem See. Der alte Koloss lebt!!! Und vielleicht ist heute wieder so eine Nacht, in der er zornig ist? Zornig darüber, dass ihm vor vielen Millionen Jahren seine einzige Tochter, die wunderschöne Angara, davongelaufen ist?
Ich liege wieder und lausche angestrengt. Ich habe so etwas noch nie gehört. Es ist nicht dieses Geräusch von Gletschern, die knacken, bersten oder kalben. Es ist anders. Es ist gruseliger. Wer vielleicht „Herr der Ringe“ gesehen hat, darf sich erinnern. An die Szene in der Höhlenstadt Moria, als der „närrische Tuck“, wie ihn Zauberer Gandalf nannte, die verrottenden Gebeine eines Zwergen in die endlose Tiefe eines Brunnens schubste – und in der Tiefe das leise bedrohliche Trommeln begann. Bevor die Orks und der Ballrog kamen… Schauderhaft, aber wir sind ja zum Glück nicht in Moria, sondern auf dem Baikalsee. Auf diesem „heiligen Meer“ der Burjaten, das so viele Superlative auf sich vereint: 25 Millionen Jahre alt – der älteste Süßwassersee der Erde. 1640 Meter tief – der tiefste See der Erde. Bewohnt von endemischen Flohkrebsen und Schwämmen – der sauberste See der Erde. Und mit dem 480(!)fachen Fassungsvermögen des Bodensees auch der größte Süßwassersee der Erde. Der Baikal beherbergt nahezu ein Fünftel aller Frischwasser-Reserven auf unserem Planeten.
Zur Zeit – wir schreiben Ende März – ist er bedeckt von einer wilden Eiskruste. Bis zu 1,20 Meter dick und zerfurcht wie ein Kartoffelacker nach der Ernte. Könnte man von oben drauf schauen (für uns kann das nur eine Drohne, wir drehen hier einen Film), dann sieht er aus wie ein überdimensionaler Spiegel, der in Millionen Scherben zersplittert ist. Und mitten drauf: wir und unsere Zelte – wie Ameisen.
Es wird wärmer in diesen Tagen, auch in Sibirien wird es irgendwann Frühling. Für uns angenehm. Für das Eis eher schwierig. Denn es reckt und streckt sich tagsüber unter der Kraft der Sonne. Die Ufer – gesäumt von bis zu 2600 Meter hohen Bergketten – können und wollen nicht weichen. Also reiben die Schollen aneinander wie die Kontinentalplatten der Erde, und irgendwann… – RRRRUMMMS! – …fliegt wie aus dem Nichts eine Spalte auf, schießt Wasser nach oben, entlastet sich der Riese von seinem Druck und brummt zufrieden. Eine Geräuschkulisse wie eine schauerliche Sinfonie. Unablässig. Immerfort.
Die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Schlund am Tage direkt unter unseren Füßen oder nachts unter unserem Zelt aufreißt, die ist auf dem fast 700 Kilometer langen See gottlob ähnlich gering wie eine Teilnahme von Dynamo Dresden in der Champions League. Mit solchen Gedanken beruhigt man sich dann. Und gibt sich doch wieder dem Schlaf hin, der Erholung von den Strapazen der letzten Tage…
Unvorstellbare Dimensionen
8000 Flugkilometer sind es von Dresden über Moskau bis nach Irkutsk am Baikalsee. Mit Aeroflot, die dankenswerterweise manche Iljuschin der Flotte durch Airbus-Maschinen ersetzt haben. Die gewährte Beinfreiheit auf dem 6-Stunden-Flug von Moskau nach Sibirien freilich hätte im Mittelalter durchaus als Foltermethode der Inquisition getaugt. Mehr davon (Beinfreiheit!) gab es in der Transsibirischen Eisenbahn – jenem Zug der Legenden, der zumindest in der 2. Klasse auch nicht anders aussieht als früher der Interzon-Zug von Paris nach Wroclaw. Der Blick durchs zerkratzte Fenster bietet freilich eine Szenerie, die man erst mal begreifen muss: Eine Stunde nur Wald, drei Häuser plötzlich, und dann zwei Stunden Wald – endlose Taiga. Unvorstellbare Dimensionen!
Die begleiten uns auch auf dem Eis… mit jedem Schritt versinkt man tiefer in sich selbst, fühlt sich kleiner und kleiner in diesem Universum aus verspiegelten Flächen, bizarren Packeisfelden und: beim Blick nach unten. Im Sommer soll man 40 Meter tief in den Baikal schauen können – wir sehen klar und deutlich jedes Luftbläschen im Eis, jeden gefrorenen Schleier, jede noch so winzige Risskante, die schon längst wieder im Frost erstarrt ist. Immer wieder faszinierend, welche Bilder Mutter Natur zu malen imstande ist!
Unser Gepäck schleppen wir in Gefährten hinter uns her, die aussehen, wie etwas zu groß geratene Baby-Badewannen aus Plastik – die Pulka made in Russland. Warme Sachen sind drin, na klar! Dazu unsere Filmausrüstung, Essen und TRINKEN! Dass es bei einem Marsch über den Baikal, bei der Erfüllung eines lang gehegten Traums, bei einer Übernachtung über der tiefsten Stelle aller Kontinente, natürlich nicht nur bei schwarzem Tee bleibt, dürfte klar sein…
Als ich wieder erwache, höre ich wieder Geräusche. Andere diesmal. Der Zeltnachbar schnarcht nun doch. Ich bin mir aber relativ sicher, dass ich im nächtlichen Konzert auf dem Baikal auch mindestens den Part einer Bratsche gegeben habe… spätestens als ich mich aus dem roten Yeti schäle, den Zelteingang öffne, das endlos weite Eis im gleißenden Licht der aufgehenden Sonne bestaune – und mich aus drei Metern Entfernung zwei weiße Glasmantel-Geschosse mit kyrillisch bedruckten Etiketten angrinsen.
Leer. Natürlich. Wäre ja im schlimmsten auszudenkenden Fall auf dem Baikal auch jammerschade drum gewesen. Mal ganz ehrlich, wer weiß denn schon mit absoluter Sicherheit, ob Dynamo in den nächsten Jahren vielleicht nicht doch Champions League spielt…?
Ich nicht. Also: Nasdarowje!
Programmtipp
Eine zweiteilige Filmreportage zur Trekking-Tour über den Baikalsee und übers Bergsteigen im sibirischen Sajan-Gebirge gibt es im MDR-Magazin „BIWAK – Berge, Menschen, Abenteuer“.
Sendetermine: 11. und 25. Mai, jeweils ab 21.15 Uhr im MDR-Fernsehen. Mehr Infos auf der BIWAK-Fanpage bei Facebook.
Lieber Thorsten,
ein sehr schöner Text, Dein „Wodka on Ice“! Ich hab das zwei Wochen vor Euch gemacht und freu mich auf Eure Sendung.
Aber eins hab ich gelernt, dort in Sibirien: es heißt NICHT „Nasdarowje“, sondern „Sasdarowje“ – Auf das Leben!
Viele Grüße von einer „Sibirien-Süchtigen“
G.
„Na sdorowje!“ – Auf die Gesundheit! „На здоровье!“. Kannst du glauben und auch im Wörterbuch nachschlagen.Ich kenne mich mit dem Russischen ein bisschen aus. Herzliche Berg- und Wandergrüße!
Regina
Hm… Müsste das Eis in der Sonne (also bei Erwärmung) denn nicht schrumpfen? Und ja, der Einwand kommt recht spät. 😉