Im Morgengrauen bei -6° anderthalb Stunden lang still am Bach hocken und auf Biber lauern… ein harter Job. Oder: Warum in der Sächsischen Schweiz erst jetzt jemand anfängt, die Tiere zu zählen.
Eine Fußbank mit Filzkissen darauf ist bei -6° Celsius die beste Meditationsunterlage, die es gibt. Wir hocken zwar nicht wegen einer Entspannungsübung im Morgengrauen zwischen frostharten Gräsern am Ufer der Kirnitzsch, aber genauso fühlt sich unsere Mission an. Wir sind starr vor Kälte – und vollkommen entschleunigt. Der Tag will sich einfach nicht aus der Umklammerung der Nacht lösen, bleischwer dämmert er hinterm Horizont vor sich hin, kein einziger Vogel ist zu hören, kein Windhauch, nur der Bach zieht ganz leise singend seine Bahn, als wolle er das Tal in seinem Schlaf nicht stören. Die Zeit verharrt in ungezählten Atemzügen. Wir sitzen und warten. Auf ein Platschen im Wasser. Auf ein Knacken im Unterholz. Auf einen heimlichen Nachtschwärmer – den Biber.
Felix Tippmann sucht mit seinem Feldstecher das gegenüberliegende Ufer ab. Da drüben liegt ein frisch angenagter Baumstamm auf der Böschung. Vom Täter keine Spur. Wir haben Zeit! Unter seinem knöchellangen Lodenmantel ist Felix mir meditationstechnisch klar überlegen. Während ich vor Kälte auf meiner Fußbank herumrutsche wie ein Kleinkind, das auf den Weihnachtsmann wartet, ist Felix die Ruhe in Person. Für solche Erlebnisse müsste man sonst einen teuren Kurs in Achtsamkeit buchen, sagt er genießerisch. Der junge Mann hat einen erfrischend unaufdringlichen, erdverbundenen Humor – er gehört zum sympathischen Typ Student, der seinen geschulten Verstand nicht wie eine Wolke Veilchenduft vor sich herträgt. Er mag frische Luft und Stille, geht jagen, hat einen Dackel und eine feste Freundin, familiäre und berufliche Zukunftspläne – und möchte mit dem Studieren auch mal fertig werden. Unser morgendliches Sitz-Yoga an der Kirnitzsch ist ein Teil seiner Abschlussarbeit. Felix, der gerade seinen Master in Biodiversität am Internationalen Hochschulinstitut Zittau macht, will herausfinden, wie sich die Biber-Population in der Sächsischen Schweiz entwickelt. Denn das hat vor ihm noch niemand sonst erforscht. Bisher gibt es nur Mutmaßungen.
Der Biber ist ein Rückkehrer im Elbsandsteingebirge. Seit ein paar Jahren taucht er immer öfter an der Elbe und ihren seitlichen Zuflüssen auf, hinterlässt in ufernahen Gehölzen gut sichtbare Spuren seiner Anwesenheit – baut aber bislang weder Dämme noch Burgen, zumindest keine großen. Lange war er in weiten Teilen Europas ausgestorben. In früheren Jahrhunderten rücksichtslos bejagt, blieben von den heimischen Biberbeständen nur geringe Reste übrig. Europas größtes Nagetier konnte nur in wenigen, voneinander isolierten Landstrichen überleben, z.B. in Norwegen, Frankreich und Weißrussland. Auch in Deutschland. Im Gebiet der Mittelelbe im Raum Dessau/Magdeburg war eines seiner letzten Refugien. Im 20. Jahrhundert schließlich unter Schutz gestellt und gezielt wiederangesiedelt, kehrte der Biber von dort allmählich in seine alten Lebensräume zurück. 1959 wurde er erstmals wieder in Sachsen gesichtet. Seit 1979 ist der Nager nachweislich wieder im Bereich der Wesenitzmündung zu Hause, später kam er auch zurück an den Lachsbach und die Kirnitzsch. Allein an der Elbe gibt es heute zwischen Pirna und Schmilka wieder acht bis neun Reviere, schätzt Felix Tippmann. Biber gelten als anpassungsfähig und können Fließgewässer aller Größenordnungen besiedeln – sie ernähren sich von Kräutern, Sträuchern, Wasserpflanzen und Laubbäumen, wie Espen, Erlen und Pappeln, fressen aber auch Gräser oder sogar Schilf.
Spuren oberhalb vom Lichtenhainer Wasserfall
Der Ort, an dem wir lauern, ist ein perfektes Revier. Die Steilhänge des Tals rücken ein Stück auseinander und machen einer weitläufigen Wieseninsel Platz. Wie eine beste Freundin legt die Kirnitzsch ihren Arm darum. Dort, wo er aus dem Wald hervortritt, liegen dem Bach ein paar wuchtige Felsblöcke im Weg, hinter denen sich das Wasser in natürlichen Gumpen und Badewannen aufstaut – gut möglich, dass Meister Biber tief unter den Steinen einen geheimen Durchschlupf zu einer trockenen Kammer entdeckt hat. Nicht immer verschanzt er sich in einer selbstgebauten Burg. Außerdem findet er im bachnahen Auwald zwischen jungen Weiden und Buchen genügend zu knabbern. Einem Nationalparkranger war an dieser Stelle mittels Wildkamera Ende November ein Nachweis von gleich zwei Tieren geglückt. „Wahrscheinlich ist es ein Pärchen“, vermutet Felix Tippmann. Dass die Nager bis hinauf ins obere Kirnitzschtal wandern, war bisher nicht bekannt. Unlängst hinterließ Meister Biber seine Spuren sogar an der Buschmühle. Während es an der Ostrauer Mühle und weiter talabwärts schon in den vergangenen Jahren immer mal wieder Beobachtungen gab, 2015 auch eine im Bereich des Nassen Grunds, wurde der Biber in den östlichen Teilen des Tals seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ein Novum.
Doch ihn aufzuspüren, ist jetzt im anbrechenden Winter ein verdammt harter Job. Nach einer Stunde wird es sogar der Kamera zu kalt – zum ersten Mal versagt der Autofokus. Im hüfthohen Ufergras ist der Atem der Kirnitzsch in stecknadelgroßen Raureifkristallen gefangen, goldbraunes Laub liegt wie eingeglast unter einer hauchdünnen Eisschicht. Ein Tagesanbruch, der in den Fingern knackt. Felix sieht mit seinem zeltartigen Jägerfilzumhang und der Schlappohrschapka aus Kaninchenfell wie Daniel Boone auf der Bärenjagd aus. Dazu würde auch sein zotteliger Begleiter passen. Am Straßenrand in Tippmanns Hundefänger ist wirklich ein Hund gefangen – Rauhaardackel Oskar musste mit raus in die Kälte, nun hockt er in seinem vierrädrigen Käfig und wartet auf unsere Rückkehr. Bei der Suche nach Fischottern wäre der Hund eine echte Hilfe, sagt Felix. Für Biber fehlt dem Dackel vermutlich die Contenance und interkulturelle Kompetenz. Wer weiß. Bislang ist alles Warten vergebens.
Die Chancen, im Elbsandsteingebirge einen Biber zu Gesicht zu bekommen, sind eigentlich gar nicht so schlecht. An fast jedem kleinen Fluss seien sie schon zu Hause, sagt Felix Tippmann. Den ganzen Sommer lang ist der Student mit Notizblock und Stift kreuz und quer durch die Sächsische Schweiz gewandert, um ihre Reviere und Schlupflöcher zu suchen – an der Wesenitz, Polenz, Kirnitzsch und Sebnitz, bis hinauf in den Schluckenauer Zipfel, insgesamt 350 Kilomter zu Fuß. „Teils schlägt man sich da auf allen Vieren durchs Unkraut“, erzählt er. „Und abends kommst du dann nach Hause – dreckig, zerkratzt und voller Zecken.“ Tippmann hat sich ein Kanu ausgeliehen und damit vier Tage lang die Elbufer in der Sächsischen Schweiz abgesucht. Manchmal fand er nur Spuren: angenagte Weiden, kleine Sandhäufchen, die die Biber dazu benutzen, um ihr Revier zu markieren. Einmal, an der tschechischen Grenze, sogar eine Knüppelburg. Und hin und wieder auch einen Biber. „Anfang August sind mal bei Sebnitz gleich drei Generationen an mir vorbeigeschwommen“, erinnert er sich. Und überall hat Felix Tippmann die Lebensräume der Tiere kartiert. Jetzt im Winter muss er seine Daten auswerten und erneut überprüfen, um Fehler auszuschließen.
Weit mehr Tiere als erwartet
Vorläufiges Fazit: Der Bestand wächst und in der Sächsischen Schweiz leben an der Elbe und ihren rechtsseitigen Zuflüssen schon etwa 50 Biber. In seinen ersten Schätzungen war Felix sogar von fast doppelt so vielen Tieren ausgegangen. „Scheinbar sind aber über den Sommer einige Jungbiber weit umher gezogen und haben entsprechend viele Spuren hinterlassen. Teilweise sind sie jetzt einfach wieder verschwunden“, sagt der junge Mann. Fakt ist: Es gibt mehr Tiere als erwartet oder auch nur ansatzweise bekannt. Insofern dürfte Tippmanns Masterarbeit nicht nur unter Naturschützern für Aufmerksamkeit sorgen. Auch andere verfolgen die Entwicklung der sächsischen Population mit Interesse – und nicht immer ist das im Sinne der Biber. Mit seiner Angewohnheit, gesunde Bäume anzufressen oder gar zu fällen, hat sich der Nager bei Förstern, Straßenbauern und Anwohnern nicht nur Freunde gemacht. Schon 1967, kurz nach seinem Wiederauftauchen im Gebiet der oberen Elbe, soll ein Fährmann im böhmischen Hrensko ein Tier erschlagen haben – der Fall ist belegt. „Warum ist das so?“, fragt Felix. „Warum ist das immer unsere erste Reaktion, wenn irgendwo ein wildes Tier auftaucht?“
⇒ Weiterlesen: Ein ungebetener Gast in der Buschmühle >>> und sein Appetit auf Weihnachtsbäume
Heimlich erschlagen. Illegal geschossen. Mit Absicht überfahren. Oder mit behördlichem Segen „entnommen“ – die Liste der gewaltsam gelösten Konflikte zwischen Tier und Mensch reicht von Problembär Bruno über Sachsens Wölfe bis hin zu den Bibern. Es gäbe viele Dinge, worüber man bei Sonnenaufgang an einem Bach wie der Kirnitzsch stundenlang meditieren könnte – wenn die Kälte nicht wäre. So langsam frieren meine grauen Zellen ein. Die Sonne hat es schließlich doch noch über den Horizont geschafft – zögerlich, beinahe widerwillig zeigt der Morgen sein bleiches, unausgeschlafenes Gesicht. Die ersten Autos bringen die Akustik des Alltags zurück ins Tal. Der Bach zieht teilnahmslos seiner Wege. Felix Tippmann schlägt den Mantel zurück und steht auf. Es hat keinen Sinn mehr, sagt der Biberforscher. Die Tiere sind nachtaktiv – die besten Beobachtungschancen hat man kurz nach Anbruch der Dunkelheit oder in den frühen Morgenstunden. Ich klappe das Stativ zusammen, verpacke die Kamera in der Fototasche und werfe einen letzten Blick hinüber zu dem eingekerbten Baumstamm am anderen Ufer. Biber leben in ihrer eigenen Welt. Doch sie ist der unseren gar nicht so unähnlich. Ihre Bewohner bauen Burgen, legen Dämme an – formen die Landschaft nach ihren Bedürfnissen. Manchmal vererben sie ihre Behausungen über Generationen hinweg. Sie sind sesshaft und rastlos zugleich. Wir haben mehr gemeinsam als wir glauben. Darüber lohnt es nachzudenken. An einem Bach vielleicht. Aber das nächste Mal im Sommer.
Also so ein unverschämter Kerl, der Biber. Ist ja schön, dass er uns eine geordnete Welt vorlebt, kann er das nicht in einem anderen Sonnensystem? Wir haben Fernsehsatelliten, also wird er uns kaum fehlen. Unsere schön billigen mit genveränderten Maschinenöl verfeinerten Lebensmittel kommen eh bald aus der Steckdose, da muss er doch nicht zwischen Gelobtbach und Schöna von Bahn und Radweg ungestört die Bäume annagen. Im Schadensfall brauchen die Lebensmittel ein paar Stunden länger rund um die Welt, auch wenns mal lebende sind , die besser schon tot wären. Und unsere leibeigenen Bauern um die Ecke könnten dann beweisen, wie bauern richtig geht. Man muss die Biber nur richtig subventionieren und die anderen bejagen, oder wir lassen beide unsere „ordentlichen Taschentücher“ per ABM sammeln. Aber trotzdem wünsche ich auch Dir, lieber Biber zu Weihnachten einen schönen Nagebaum, mir einen Braten aus der Ecke und dem Felix Tippmann danke ich für seinen Ehrgeiz im Sinne der Natur, mit dem Ziel des sinnvollen Umganges mit solch Gästen.