Kletteridol Bernd Arnold wird 70. Noch immer reizt den Sachsen das Abenteuer in den Wänden seiner Heimat – und fernab davon. Von Zeit zu Zeit verschwindet er für ein paar Wochen. Manchmal bis ans Ende der Welt. Aber zurück zu sich.
Bernd Arnolds Leben erscheint wie ein Ping-Pong-Spiel zwischen zwei Extrempunkten. Einer dieser Pole befindet sich in einer kleinen Dachkammer in seinem Heimatort Hohnstein in der Sächsischen Schweiz, erfüllt von Pfeifendunst, vollgestopft mit Büchern und Papieren und einem schlichten Sekretär voller Merkzettel und Telefonnummern. Dort sitzt der Kursleiter und Trainer Bernd Arnold – Bernd, der Vorkletterer, der mit seinen Kunden telefoniert, plant und Termine eintaktet. Dort sitzt auch Bernd, die Kletterlegende. Ein Mann, den man auf der ganzen Welt als sächsischen Meister des Sports kennt. Der im Elbsandsteingebirge Spuren hinterlassen hat wie kaum ein anderer. Jemand, den Journalisten und Filmleute anrufen, wenn sie Rat wollen oder ein Interview. Ein Mann, der noch immer schwer klettert – aber seine 70 Jahre in den Knochen und Muskeln spürt. Der die Früchte seiner Sturm-und-Drang-Zeit genießt. Und den das insgeheim wurmt. Das alles ist der Alltags-Bernd.
Der andere Pol in Bernd Arnolds Leben ist nicht so festgelegt. Er verändert sich, wechselt unablässig den Ort, lässt sich nie ganz klar definieren. Mal ruht er für einen Moment auf einem Stück Natur in der heimischen Sandsteinwelt, dann springt er über auf eine Insel im arabischen Piratenmeer – oder taucht auf dem Gipfel einer Felsenburg im Urwald von Venezuela wieder auf. An diesem launischen, wechselhaften Pol trifft man Bernd, den Abenteurer. Einen Mann, der sich auch mit 70 Jahren noch zu jung fühlt, um eine Legende zu sein. Der neugierig und hungrig ist auf die Welt und alles, was sie ihm zu bieten hat. Der rausgehen will aus dem Gefangensein im Alltag und wie ein Trotzkopf gegen alles meutert, was ihn zu sehr einengt und ihm Grenzen setzt – auch gegen die Gebote der Schwerkraft. Dieser Bernd sucht das Weite, wenn ihn sein anderes Leben erdrückt. Dann verschwindet er für ein paar Wochen in irgendeinen Winkel der Erde – lässt Hohnstein und den Winter daheim zurück und sucht „Augenblicke des totalen Glücks“, so beschreibt er das Ziel seiner Reisen in einer Tagebuchaufzeichnung.
Bei einem dieser Ausbrüche findet Bernd Arnold seinen zweiten Pol für ein paar Dezembertage auf der Südhalbkugel, auf der Sommerseite der Erde, etwa 30 Flugstunden von Frankfurt/Main entfernt, zwischen dem Indischen und dem Stillen Ozean. Dort liegt vor der australischen Festlandküste die Insel Tasmanien, ein dünn besiedelter Landfleck von etwa der Größe des Bundeslands Bayern, mit exotischen Pflanzen und Tieren, wuchtigen Bergmassiven und schroffen Felstürmen aus Dolerit – einem grobkörnigen Basaltgestein. Tasmanien war früher eine Sträflings-Kolonie der englischen Krone. Hierher wurden Schwerverbrecher verfrachtet, die man im britischen Heimatland nicht haben wollte. Bergsteigern ist die Insel aber schon eher wegen einer spektakulären Felsnadel an der Ostküste geläufig: „The Totem Pole“ (der Totempfahl). Die etwa 70 Meter hohe Steinsäule wächst in einer schmalen Bucht zwischen steilen Uferklippen senkrecht wie ein Lot aus dem Meer, kühn und schroff – ein Fels in der Brandung.
Für Bernd Arnold ist Tasmanien schon lange ein Thema. Anfang der 80er-Jahre zieht er mit zwei australischen Spitzenkletterern, Kim Carrigan und Louise Shepherd, durchs Elbsandsteingebirge. Die Australier erzählen von der exotischen Felseninsel im Süden des Kontinents. Die Neugier des Hohnsteiners ist geweckt. Doch als DDR-Bürger erscheint ihm diese Welt unerreichbar fern, eine Märchenbuchlandschaft. Den Totem Pole entdeckt Arnold zum ersten Mal auf dem Werbefoto eines Herstellers von Outdoorbekleidung.
Die Säule zieht ihn sofort in ihren Bann und wird eines seiner Traumziele. Doch Bernd, der Träumer und Abenteurer, hat spätestens nach der Wende viele solche Ziele. Tasmanien muss am längsten auf ihn warten. Die Reise zum Totem Pole beginnt am Gate 23 des Flughafens von Sydney. Von dort nimmt er mit seinem Südtiroler Kletterfreund Helmut Gargitter und zwei weiteren Bergsteigern den Flieger nach Hobart, der Inselhauptstadt. Es soll seine bislang teuerste Reise werden. Aber eine, von der er später sagen wird, dass sie unter „den großen Besonderheiten“ in seinem Kletterleben rangiert. Bernd Arnold sagt solche Sachen nicht einfach so dahin. Sie bedeuten ihm etwas. Denn der Hohnsteiner stürmt auf seinen Reisen nicht sofort – blind fürs Umfeld – seinen Sehnsüchten hinterher auf irgendeine Wand los. Er will „ankommen“, nimmt sich Zeit für Land und Leute, sieht mehr als nur nackten Fels und urteilt mit Bedacht. Am Totem Pole gefällt ihm aber besonders die Begegnung zweier Naturgewalten: die zwischen dem Fels und der See.
Der erste Blick auf die Zacke ist jedoch wenig erhebend, eher ernüchternd. Was daher kommt, dass man zunächst mal vom mächtigen Hochufer – also von oben – zu ihr herabsteigen muss. Die Massivklippen sind bis zu 200 Meter hoch. Die 70-Meter-Säule in ihrer Mitte „sah ein bisschen popelig aus“, sagt Bernd Arnold. Doch der Respekt kommt gleich beim Hinunterseilen zurück. Mit jedem Meter, den die Kletterfreunde verlieren, wächst das schroffe Lot in die Höhe. Die Bergsteiger tauchen zwischen den beiden Wänden wie in einen Trichter ein, auf dessen Grund die Brandungswellen schäumen. Zehn Meter breit ist der Meereskanal. Um den Einstieg zu erreichen, muss am Seil von einer Wand zur anderen gependelt werden – doch das misslingt zunächst, weil es drüben nichts zum Festhalten gibt. Irgendeine Stange muss her. Damit könnte man über das Wasser hinweg zu einem Sicherungshaken langen und eine Express-Schlinge mit offenem Schnapper einhängen.
Doch für so eine Angelei ist es zu spät. Das Experiment muss bis zum nächsten Tag warten – erst dann gelingt es. Ein dünnes Eukalyptusbäumchen wird dafür geopfert. Was weiter oben folgt, findet der Hohnsteiner, der schon immer in den oberen Schwierigkeitsgraden zu Hause ist, anspruchsvoll. Feuchter Fels, eine windige, 40 Meter hohe Kante, glatt. In Australien wird die Route nach der einheimischen Skala, die 33 Schwierigkeitsgrade kennt, mit 25 eingestuft. Spielerei sei das nicht gewesen, schreibt Bernd Arnold später in sein Tagebuch. Und das, obwohl die Route auf den Gipfel seit 1995 erschlossen ist und somit im Grunde gar nicht recht ins Fahndungsraster des Kletterpioniers passt. Der sucht auf seinen Reisen nämlich vornehmlich Berge, wo es noch etwas zu entdecken gibt – wo nur Gespür, Erfahrung und Können zählen und der Weg durch die Wand erst gefunden werden muss. „Als Entdecker unterliegst du keinen Einschränkungen – das ist schön in unserer festgefügten Welt“, hat Bernd Arnold mal gesagt. Aber die Säule bezirzt ihn wohl vor allem mit ihrer Schönheit. Unten im Meer tummeln sich Delfine und Robben. Die Sonne lacht – und dann diese herrliche Linie. Es ist schon fast kitschig schön. „An so einem Tag denkst du wirklich an den Weltfrieden“, sagt Bernd Arnold.
Ein paar Tage später ist der Kletterer wieder daheim in Hohnstein, mitten im Winter. Aus Bernd, dem Abenteurer, wird wieder der Alltags-Bernd, der sich an seinen Schreibtisch setzt, Anrufe empfängt, Briefe beantwortet und mit der Familie Weihnachten feiert. Bis zur nächsten Reise.
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