Mangelware am Berg. An manches Stück Kletterausrüstung zu DDR-Zeiten denkt man heute mit erheblichem Schaudern zurück. Die Sommer-Bergsichten in Porschdorf graben einige „Klassiker“ wieder aus. Aus einer Zeit, als das Material noch Teil des Abenteuers war.
Vom tapferen Schneiderlein gibt es eine Geschichte, die nur kennt, wer zu DDR-Zeiten in den Bergen des damaligen Ostblocks unterwegs war. Der Schneider hieß Alex Albust, hatte seine Werkstatt im mittelsächsischen Erdmannsdorf und war so etwas wie der Schutzgeist ostdeutscher Alpinisten. Denn der Meister fand sein Auskommen darin, Textilien herzustellen, für die das damalige regimegesteuerte Wirtschaftssystem überhaupt keinen Plan hatte: hochgebirgstaugliche Anoraks zum Beispiel oder Daunenschlafsäcke. Entsprechend lang waren seine Wartezeiten. Bevor ein Winteranorak aus Erdmannsdorf seinen Käufer erreichte, konnte die Bestellung durch alle vier Jahreszeiten gegangen sein. Schlimmstenfalls war der Empfänger zuvor bereits ins letzte Hemd geschlüpft.
Und noch etwas anderes wurde zum Markenzeichen der Albust-Fabrikate. Dem Meister wird nachgesagt, er sei so rund wie eine Erdkugel gewesen, mit Armen nicht viel länger als eine Schneiderelle, und habe seine eigene, leicht einprägsame Körperwelt zum Maß aller Dinge genommen. Spinnt man diesen Gedanken weiter, könnte man nun zu der Annahme gelangen, ostdeutsche Bergsteiger seien allesamt kurzärmelig in die Eiswände und Gletscherregionen hinaufgestiegen. Was aber nicht stimmt, beteuert einer, der diese Zeit selbst miterlebt hat – Jens Kittel, letzter Expeditionsarzt der DDR-Nationalmannschaft Alpinistik. Das Problem mit den Albust-Ärmeln war zwar berüchtigt, sei aber auf unterschiedlichste Weise gelöst worden. Der Doktor zum Beispiel ließ sich daheim Wollbündchen an den Anorak stricken. „Zum Glück waren auch die Handschuhe lang genug, sodass ich keine Probleme mit den Ärmeln bekam“, sagt er.
In den Jahrzehnten seiner Bergsteigerlaufbahn war Jens Kittel der Rock nicht bloß einmal zu kurz. Kletterzeug ist zu DDR-Zeiten Mangelware – die Materialsuche für ostdeutsche Bergsteiger bereits ein Abenteuer für sich. Manches muss sogar daheim im Keller oder Schuppen selbst angefertigt werden, weil es sich nirgendwo beschaffen lässt. „Aber wir waren ja ein Volk von Bastlern“, erklärt der 73-Jährige. Amüsante und weniger lustige Beispiele aus dem Raritätenkabinett des ostdeutschen Bergsports hat der Doktor in seinem Foto-Archiv gesammelt und jetzt für die Sommer-Bergsichten in Porschdorf wieder ausgegraben.
So sind etwa Fahrradkappen aus Leder und Bauarbeiterhelme Langezeit in den Wänden des Ostens en vogue – denn was anderes gibt´s nicht. „Die haben zwar nix gehalten, sahen aber wenigstens scheußlich aus“, witzelt der Doc. Die Episode mit dem Anorak erlebt er Mitte der 70er-Jahre, als er sich für seine erste Kaukasusfahrt ausrüstet. Der Eispickel stammt noch aus dem Neolithikum des Alpinismus, Kittel hat ihn per Zeitungsannonce auf dem Dachboden „älterer Herrschaften“ gefunden und den altehrwürdigen, mannshohen Eschenstiel wie einen vorlauten Jungspund auf Standardmaß zurechtgestutzt. In den Bergschuhen, handgefertigt von einem Schuster in Thüringen, steckt das Fußbett eines Gummistiefels, guter Bauarbeiterfilz. Die selbstgestrickten Wollsocken haben ein Zopfmuster, mit dem der Doktor zwischen den Komparsen des „Oberhofer Bauernmarkts“ nicht weiter aufgefallen wäre. Für seinen Schlafsack – ebenfalls ein Albust-Modell – schickt ihm die Großmutter aus Westberlin erstmal ein Weihnachtspaket voll Gänsedaunen. Die Steigeisen sind nicht minder eindrucksvoll, vorn lässt Kittel von einem befreundeten Werkzeugmechaniker noch ein paar zusätzliche Zacken anschweißen. Auch sein Klettergurt ist selbstgeflochten. Mit Sicherheit habe das alles damals wenig zu tun gehabt, sagt der Doktor. Frei nach dem Motto: „Hält das Seil, dann muss auch der Gurt halten.“ Die Unlogik dieses Zusammenhangs liegt so offen wie die Faserenden eines sowjetischen Fixseils nach einem Eissturm. Auch davon hat der Expeditionsarzt Bilder in seinem Archiv. Not macht bekanntlich erfinderisch. Aber in den Bergen muss Findigkeit nicht zwangsläufig auch eine Tugend sein.
Sommer-Bergsichten 2017 auf dem Aktivhof Porschdorf
Freitag/Sonnabend, 1./2. September, jeweils 20 Uhr, Einlass 18 Uhr
Zwei Abende Open Air auf dem Aktivhof Porschdorf mit zahlreichen spannenden und lustigen Filmen und Livevorträgen aus den kleinen und großen Bergen der Welt. Lagerfeuer, Grill und Bier. Parkplatz und Zeltwiese vor Ort.
Jens Kittels Vortrag „Die Alten vom Berge – Erinnerungen aus 40 Jahren Alpinismus“ läuft am Sonnabend.
Weitere Highlights:
- „Garten Eden – 13 Ringe bis ins Paradies“, Film von Alex Hanicke und Felix Bähr, (Freitag)
- „Kein Urlaub am Meer – Klettern in Sibirien“, Vortrag von Jörg Brutscher, (Freitag)
- „Artisten am Fels – Klettern im Elbsandstein“, Film von Lothar Brandler, (Sonnabend)
- „Bernd Arnold – Wege nach innen“, Film von Ulf Wogenstein, (Sonnabend)
- „Simply the worst“, Film von Franz Müller und Johannes Kürschner (Sonnabend)
Das ganze Programm: www.bergsichten.de/sommerbergsichten
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