Ein letzter Rest Freiheit

Kletterfotos aus der Zeit 1933-1945
Von links: Rudolf Kaden 1935 am Schrammtorwächter, gesichert wird über die Schulter. | Mitglieder des Kletterklubs "Wildensteiner" 1940 auf der Zackenkrone (Schrammsteine). | Die Berggaststätte auf dem Kleinen Bärenstein um 1933. (Fotos: Archiv Joachim Schindler)

Klettern zur Nazizeit – Joachim Schindler öffnet eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Bergsteigens. Und fördert Erstaunliches zutage.

Es war ein Kletterfreund, der Joachim Schindler in seiner Auseinandersetzung mit der Nazizeit das erste Mal zum Weinen brachte. Die Begebenheit liegt zwei Jahrzehnte zurück. Aber der Dresdner erinnert sich an alle Einzelheiten: An die Kiste oben auf dem Schrank, die nach dem Tod des Freundes zum Vorschein kommt – von deren Existenz niemand weiß, auch seine Lebensgefährtin nicht. An die heimlich darin aufbewahrten Fotos von anderen Frauen. An die Liebesbriefe. Die Haarlocke. Und an die NSDAP-Akte.

Portrait
Joachim Schindler
Bergsport-Historiker

„Oft war es aufwändig und schwer, die Wahrheit herauszufinden, und mitunter tat sie dann auch noch recht weh.“

Für Joachim Schindler (70) bricht damals eine Welt zusammen. Die Fundstücke werfen einen tiefen Schatten auf die langjährige Freundschaft. Jemand, den er zu kennen meint, den er als Menschen schätzt und als Kletterkameraden, offenbart im Tod plötzlich sein zweites Gesicht. Familienvater, Charmeur, Lebemann – Ein Urgestein bei den Naturfreunden. „Mir kamen die Tränen“, erinnert sich Schindler.

Ein persönliches Relikt aus einer Zeit, über die längst alles gesagt scheint und die doch immer wieder neue Fragen aufwirft. Auch bei Joachim Schindler. Und das hat mit dem Elbsandsteingebirge zu tun. Schindler ist 70 Jahre alt, und er ist Bergsteiger. Einer, dem es nie genügt hat, die Felsen und Gipfel seiner Heimat nur zu besteigen – er will mehr darüber wissen. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit der Geschichte des Kletterns, sammelt und erforscht systematisch Dokumente, Zeugnisse und Quellen zur Sächsischen Schweiz. Aus dem Hobby wird eine Lebensaufgabe, Schindler gilt bald als Instanz auf seinem Gebiet – er arbeitet an wissenschaftlichen Publikationen, hält Vorträge, organisiert Konferenzen, leitet einen Geschichtskreis, der sich kritisch mit allen Epochen des Bergsports auseinandersetzt. 1996 bringt er den ersten Teil einer Chronik über die Pionierzeit des Kletterns heraus – 1864 bis 1918. Band zwei folgt nur fünf Jahre später. Er endet mit dem Jahr 1932. Dann entsteht eine Lücke. Die Arbeit am folgenden Abschnitt gestaltet sich schwieriger als alles Bisherige und beschäftigt Joachim Schindler schon vor der Wende, insgesamt mehr als 30 Jahre lang. Bergsteigen in den Hitler-Jahren. Ein umstrittenes Thema. Und ein Feld voller Stolpersteine.

Gruppe von Männern auf einem Gipfel
1934 – Mitglieder des Kletterklubs „Bärensteiner 10“ auf dem Dreizack am Großen Bärenstein. (Foto: Archiv Joachim Schindler)

Schindler trägt Material zusammen – nicht um zu urteilen, sondern um zu dokumentieren. Ihm ist klar: Die Geschichte des Bergsports in den zwölf Jahren der Hitler-Diktatur ist mehr als nur eine Geschichte von Erstbegehungen. Und auch mehr als eine Erzählung von Gleichschaltung und Widerstand. Jenseits davon ist die Geschichte lückenhaft. Wie ein Puzzle, in dem wichtige Teilchen fehlen. Zum Beispiel der Gastwirt Franz Rossberg auf dem Kleinen Bärenstein, ein seinerzeit in Kletterkreisen bekannter Kneiper. Schindler stößt per Zufall auf ihn. Bis 1943 existiert auf dem Tafelberg eine Berggaststätte, ein Treffpunkt und beliebtes Ausflugslokal – ihre Fundamente und Mauerreste sind noch heute erhalten. Im März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand, gerät die Kneipe ins Visier der Polizei. Ein SA-Kommando durchsucht das Haus, Gäste werden verhaftet, darunter der deutschlandweit bekannte Verleger Walter Hösterey, Herausgeber mehrerer kritischer Zeitschriften. Ein Prominenter auf der Durchreise? Was hat er auf dem Bärenstein zu suchen? Der Wirt ist Sozialdemokrat und steht als solcher bei den Behörden in Verdacht. Joachim Schindler findet Belege, dass Rossberg heimlich einen Koffer mit SPD-Unterlagen über die Grenze nach Böhmen brachte. „Ziviler Ungehorsam“, sagt er. „Das finde ich erwähnenswert.“

Berggaststätte
Die Gaststätte auf dem Kleinen Bärenstein. Im September 1943 schließt das beliebte Ausflugslokal für immer. (Foto: Archiv Joachim Schindler)
Wirtshausruine, alte Treppen und Fundamente
Heute erinnern nur noch ein paar Treppen und Mauerreste an die alte Berggaststätte auf dem Kleinen Bärenstein. (Foto: Hartmut Landgraf)

In den Felsen der Sächsischen Schweiz entzieht sich damals noch manches mehr dem Blick und der Kontrolle des Regimes. Flugblätter werden über die Grenze geschmuggelt. Für kurze Zeit betreibt eine Widerstandsgruppe in der Höhle am Satanskopf eine provisorische Druckerei. 1945 verstecken sich Kletterer im Elbsandstein vor den letzten Kriegswirren. Klettern ist als Individualsport nicht so leicht auf Linie zu bringen wie andere Sportarten. Die Bergsteiger sind anders und lockerer organisiert, haben andere Ideale und passen nirgendwo richtig rein. Auf die Vereins- und Funktionärsebene hat das System Einfluss, darunter bleibt aber manches unkontrolliert. In den Bergen herrscht ein letzter Rest Freiheit.

Kletterin in der Sächsischen Schweiz
1942 – Die jüdische Bergsteigerin Ilse Frischmann am Höllenhund/Rathener Gebiet. (Foto: Archiv Joachim Schindler)

Es gibt Klubs, die sich mit dem Hakenkreuz in Gipfelbücher einschreiben. Es kommt zu unbegründeten Ausschlüssen in Bergsportvereinen. Schindler findet aber auch Beispiele für einen Zusammenhalt, der keine Grenzen kennt. Wo der Umgang miteinander erstaunlich unpolitisch bleibt, bis zuletzt – und bis hin zu Kreisen, in denen Nazis mit Kommunisten zusammen klettern gehen. Es gibt Geschichten wie die der jüdischen Bergsteigerin Ilse Frischmann, die von ihren Gefährten in die Berge mitgenommen wird, aber isoliert im Judenhaus leben muss – Schindler findet viel Widersprüchliches. Das Regime zieht die Grenzen eng. „Marxistische“ Bergsteiger- und Touristenorganisationen werden schon 1933 verboten. Es folgt eine Polizeiverordnung, die es Jugendlichen untersagt, im Gebirge zu übernachten. In den 30er-Jahren gibt es gebietsweise Kletterverbote, die zeigen, dass der Sport keine Lobby hat. Dann kommt der Krieg und reißt riesige Lücken in die junge Bergsteiger-Generation. Trotzdem werden in diesen Jahren auch einige sportliche Meilensteine gesetzt – Erstbegehungen im VIII. Schwierigkeitsgrad, die sogenannten letzten großen Probleme: Teufelsturm-Talseite (1936), Schrammtorwächter-Nordwand (1936). „Mit Schwarz-Weiß-Denken wird man der Zeit nicht gerecht“, sagt Joachim Schindler.

Kletterer bauen eine Menschenpyramide, um eine schwierige Stelle zu überwinden
1933 – Kletterer vom Klub Edelweiß am Aehligweg, Kleiner Halben/Brandgebiet. (Foto: Archiv Joachim Schindler)
Seilschaft klettert am Schrammtorwächter in der Sächsischen Schweiz
13. September 1936 – Willy Häntzschel und Gefährten gelingt die Erstbegehung der Schrammtorwächter-Nordwand. Die Wand galt in den 30er-Jahren als eines der „letzten großen Probleme“ in der Sächsischen Schweiz. Schwierigkeit nach heutiger Einstufung VIIIb. (Foto: Archiv Joachim Schindler)
Joachim Schindler
„Chronik zur Geschichte von Wandern und Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz“, Band III. 1933-1945, 376 Seiten.
Für 23 Euro zu kaufen u.a. in der Geschäftsstelle des SBB in Dresden und bei Bergsport Arnold in Hohnstein und Bad Schandau.

Teil 3 der Chronik erscheint Jahre später als geplant. Sie ist Schindlers Lebenswerk. Mehr als einmal will er entnervt aufgeben und alles hinwerfen. Die Ergebnisse erscheinen anfangs einfach zu lückenhaft und widersprüchlich. Als sie im vergangenen Jahr schließlich doch zu einem guten Ende kommt, findet die gewaltige Recherchearbeit zwischen stabilen Buchdeckeln in 2500 Einträgen und 1100 Fotos und Dokumenten ihren Niederschlag, die sich – wenn man sie als Ganzes betrachtet – zu einem schattierungs- und facettenreichen Bild der Zeit verdichten. Ansprechend und gut nachvollziehbar aufbereitet von Frank Richter, in dem der Autor zugleich einen kritischen Lektor und Begleiter fand. Herausgegeben vom Sächsischen Bergsteigerbund (SBB), der sich mit diesem Buch mutig einem umstrittenen Stück seiner eigenen Vergangenheit stellt.

Eine schwergewichtige Sammlung belegbarer Fakten. Es fällt nicht leicht, sie an einem Stück zu lesen wie ein Buch. Aber niemand, der sich in Zukunft ernsthaft mit dieser Epoche der sächsischen Bergsportgeschichte auseinandersetzen möchte, wird an dieser Dokumentation vorbeikommen. Es werde dem Leser der Chronik viel abverlangt, bemerkt Frank Richter in seinem Geleitwort. „Und doch erscheint es notwendig, sich diesen Mühen zu unterziehen.“ Und Ulrich Voigt, der Ehrenvorsitzende des SBB, schreibt dazu: „Geschichtsschreibung – und selbst Geschichtsdokumentation – ist niemals in der Lage, alle Betrachtungsweisen des Geschehenen objektiv wiederzugeben. Aber allein die Menge der recherchierten Quellen und Ereignisse bringt ein anschauliches Bild der Zeit, die die Vereine und die Bergfreunde erlebt haben.“

Buchpräsentation

14. März 2018, 18:30 Uhr im Kreistagssaal des Landratsamtes Pirna, Schloss Sonnenstein. Einlass ab 18:00 Uhr. Tickets zum Preis von 3,00 EUR gibt´s im Vorverkauf u.a. beim Sächsischen Bergsteigerbund in Dresden, Papiermühlengasse 10 und beim TouristService Pirna im Canaletto-Haus am Markt. Restkarten an der Abendkasse.

Mann auf Aussicht, im Hintergrund die Festung Königstein
Die Aussicht auf dem Kleinen Bärenstein ist einer von Joachim Schindlers Lieblingsplätzen in der Sächsischen Schweiz. (Foto: Hartmut Landgraf)

4 Kommentare zu Ein letzter Rest Freiheit

  1. Besten Dank für die Würdigung der mühevollen Arbeit von Achim
    Schindler ! Er hat sich auch bei uns – Hans Ruge und Günther Keil –
    Auskünfte/Infos geholt.

  2. Herzlichen Dank für die genaue Bewertung der gewaltigen Leistung und der historischen Bedeutung der „Chronik“ von Achim Schindler.

  3. Mit 90 entleert man langsam den Bücherschrank. Nun hat Achim diese noch fehlende Chronik zu seinen früheren historischen Daten hinzugefügt. Danke Achim, es wird auch mein Beginnen des „Bergebesteigens“ nicht fehlen. und der Bücherschrank wird nicht leer. Hans und Günter stehen mit in meinen „Gipfelbuch“.

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