Auf keinem anderen Berg in Deutschland fühlt man sich dem Himmel so nahe wie auf dem Mittelberg in Sachsen-Anhalt. Vor 3600 Jahren vergruben hier Menschen das erste Bild des Kosmos – die Himmelsscheibe von Nebra. Wie sah ihre Welt aus? Auf den Spuren der ältesten Gutenachtgeschichte.
Wer auf einen Berg steigt, wird sich wohl nur selten Gedanken darüber machen, wie viele Menschen diesen Weg schon vor ihm gegangen sind. Doch es gibt einen Berg, auf dem man über kaum etwas anderes nachdenkt als die vielen Schicksale und Geschichten, die sich mit ihm verbinden. Er befindet sich nicht an irgendeinem gottverlassenen und weit entfernten Ende dieser Welt, sondern ganz in der Nähe. Er ist kein sagenumwobener Riese aus Eis und Schnee, sondern kaum mehr als eine Hügelkuppe – umgeben von stillen Buchen- und Eichenwäldern, hingestreuten Dörfern, Stoppelfeldern und Windrädern – nur ein Punkt auf der Landkarte, irgendwo im Süden von Sachsen-Anhalt. Der Mittelberg bei Nebra.
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Und doch wird wegen diesem unscheinbaren Häuflein Erde gerade die Geschichte eines ganzen Zeitalters neu geschrieben – genau genommen ein Stück Weltgeschichte. Und jedes Wochenende sieht der Berg Reisebusse und Autokorsos zu seinen Füßen. Auf dem lauschigen Pfad, den man in einer gemütlichen halben Stunde durch lichtes Gehölz hinauf zum Gipfel spaziert, begegnen sich an einem sonnigen Tag Touristen und Geschichtsfreunde, Sensationsjäger und Sinnsucher. Dass die kleine Kuppe in der mitteldeutschen Agrarsteppe so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist einem Zufall geschuldet. Fast 4000 Jahre lang hat sie in ihrer stillen Abgeschiedenheit ein großes Geheimnis gehütet. Es wäre der Welt wohl für immer verborgen geblieben – Doch vor nicht einmal 20 Jahren entdeckten Raubgräber auf dem Mittelberg eine archäologische Sensation: eine etwa tellergroße Bronzescheibe mit punkt- und sichelförmigen Einlagen aus purem Gold, ein naturnahes Abbild des Sternenhimmels und die erste Darstellung unseres Kosmos – die Himmelsscheibe von Nebra.
Sterne über Nebra from Stephan Messner on Vimeo.
Die Luft auf dem Mittelberg ist bedrückend. Ein schweres Gewitter rollt über Teile von Sachsen-Anhalt hinweg und durchzuckt die Nacht mit seinem fernen Trommelfeuer. Berg und Tal verhüllen ihr Gesicht unter schwarzen Schleiern, nur im Nordosten blinken die Lichter eines Windparks unablässig in der Dunkelheit – eine lange Reihe roter Himmelslaternen, wie eine Landebahn für Außerirdische. Eine fremde, technische Welt, die in unsere einzudringen sucht. So sieht es aus.
Fürstlich begraben
Solche Gedanken müssen einem wohl kommen, wenn man in einer Gewitternacht neben einem bronzezeitlichen Heiligtum auf eine futuristische Aussichtsplattform steigt. Nur ein paar Schritte vom Ort, wo 1999 die Bronzescheibe gefunden wurde, ragt heute ein 30 Meter hoher Betonturm schräg in den Himmel – wie der Zeiger einer gigantischen Sonnenuhr. Dort hinauf muss man sich begeben, hat Harald Meller gesagt, wenn man ein Sichterlebnis haben will wie die Menschen vor 4000 Jahren. Damals war der Berg frei von Bäumen – und man konnte von seinem Gipfel weit übers Land bis zum 80 Kilometer entfernten Brocken blicken. Heute hingegen ist der Mittelberg bewaldet, nur ganz oben, wo der Turm steht, wurde ein kreisrundes Stück seiner Kuppe kahlgeschlagen. Doch wer den Brocken sehen will, muss noch ein Stück höher hinauf, hoch genug, um über die Baumwipfel hinwegzuschauen.
Eine Zeitreise in die Welt vor 3600 Jahren
Wer mehr über die Himmelsscheibe erfahren möchte – In der „Arche Nebra“ am Fuß des Mittelbergs ist ihre Geschichte eindrucksvoll in einem Planetarium und einer Dauerausstellung aufbereitet. Infos gibt´s im Internet: www.himmelsscheibe-erleben.de
Meller hat jahrelang über diesen Ort nachgedacht: Er ist Chefarchäologe des Landes Sachsen-Anhalt und derjenige, der die Himmelsscheibe und ihre Geschichte besser als jeder andere kennt. Im Jahr 2002 hat er das archäologische Weltwunder, als Käufer getarnt, im Rahmen von Fahndungen des LKA und der Schweizer Polizei in Basel vom Schwarzmarkt gerettet. Seitdem versucht der Professor mit seiner Forschungsarbeit Licht in eine dunkle Geschichte zu bringen, die vor 3600 Jahren hier auf dem Mittelberg ihr abruptes Ende fand. Vieles hat man inzwischen über die Himmelsscheibe herausgefunden. Woher sie stammt und wie sie gefertigt wurde. Dass das verwendete Kupfer aus einer Mine in den Ostalpen kam, das Gold hingegen aus einem Fluss im englischen Cornwall. Geschmiedet wurde die Scheibe mit hoher Wahrscheinlichkeit dort, wo man sie später auch wiederfand: in der Gegend an Saale und Unstrut, einer Landschaft, die schon seit der Steinzeit von Menschen bewohnt und bewirtschaftet wird. Rätselhaft aber sind noch immer die Umstände, die dazu führten, dass dieses Meisterwerk der frühen Schmiedekunst auf dem Mittelberg vergraben wurde – beerdigt wie ein Fürst, mit reichen Grabbeigaben. Meller deutet es als Opfer. Eine Entäußerung des Sternenhimmels. Vielleicht um die Götter in ungewisser Zeit gnädig zu stimmen, Symbol eines Umbruchs am Beginn einer neuen Epoche.
Eine Landschaft voller Erinnerungen
Wie viele Zeitenwenden hat der Mittelberg schon erlebt? Wie oft sind die Sterne über ihm auf- und untergegangen? Wie viele Weltbilder wurden in 4000 Jahren zerbrochen und vergessen? 144 Generationen – So viele Menschen und Lebenswege hat die Himmelsscheibe überdauert! Und jedes einzelne Leben war voll von Träumen und Hoffnungen, Glück und Leid, schönen und traurigen Dingen. Wenn man ganz still wird, kann man es spüren. Es umgibt einen hier oben auf dem Aussichtsturm. Unten steht der Wald wie eine dunkle Ahnung um die blanke Bergkuppe. Er birgt Erinnerung – das Wissen und den Atem einer uralten Kulturlandschaft. Die Luft ist warm und schwer. Das Gewitter hat sich verzogen, nur am Horizont flackert der Himmel noch von seinem fernen Widerstreit mit der Nacht. Die Wolken lichten sich allmählich. Und irgendwann sehe ich im Osten den ersten Stern.
Was haben die Menschen damals vom Himmel gewusst? Wie sah ihre Nacht aus? War sie ein Mysterium? Oder etwas Bedrohliches? Bis heute ist nicht endgültig geklärt, was genau die Himmelsscheibe darstellt und wozu sie einst diente – es gibt darüber viele Meinungen, Thesen und Geschichten. Manche sind wissenschaftlich fundiert, andere rein spekulativ, einige erscheinen plausibler als andere. Weitgehend akzeptiert scheint die Ansicht, wonach die Scheibe mit ihren Goldsymbolen uraltes bäuerliches Wissen über den Lauf der Gestirne verschlüsselt. So soll beispielsweise die Stellung des Mondes zu der darüber befindlichen siebenteiligen Punktwolke – zumeist als Plejaden interpretiert – einer Konstellation entsprechen, die den Frühlingsbeginn und damit den Zeitpunkt der Aussaat markiert. Zudem könnte sie auch eine Schaltregel zum Abgleich des Mond- und Sonnenkalenders beinhalten. Die goldenen Bögen am Rand hingegen, die später angebracht wurden, lassen sich als Auf- und Untergangspunkte der Sonne am Horizont erklären – Die Winkel der Sonnenwenden passen nicht nur zur geografischen Breite von Sachsen-Anhalt, sondern auch zu einer 3000 Jahre älteren Kreisgrabenanlage ganz in der Nähe – dem Sonnenobservatorium von Goseck. Harald Meller sieht in all dem einen Hinweis dafür, dass es schon in der Bronzezeit Menschen gab, die ihre Welt mit kühlem, mathematischem Sachverstand beobachteten.
DER PODCAST ZUM THEMA
„Schon 1000 Jahre vor den Griechen gab es in Europa Menschen, die mit mathematischem Verstand eine komplexe Himmelsdarstellung fertigen – damit konnten wir nicht rechnen.“
Professor Harald Meller im Podcast
Der Archäologe über seine Forschungsarbeit und ein Stück Bronze, das unser Geschichtsbild verändert. Gespräch: Hartmut Landgraf
Aber wenn man die Welt nur als ein Gefüge aus berechenbaren Naturgesetzen ansieht, wird man ihrer Sinnlichkeit nicht gerecht. Warum sollte in der Himmelsscheibe nicht auch davon etwas stecken – etwas, das sich gar nicht in Symbolen und Winkeln ausdrücken lässt, sondern nur aus ihrer Schönheit spricht? Auf einem Berg bin ich dem Himmel ein Stück näher – dem Sinn des Lebens und dem Glück. Mathematisch kann ich das nicht erklären. Aber es ist mächtig genug, mich da hinauf zu treiben. Vielleicht erzählt die Scheibe etwas ganz Ähnliches. Etwas vom Staunen, dass ihr Schöpfer beim Anblick der Sterne empfand.
Stell dir vor, du machst eine Zeitreise weit zurück in deine eigene Vergangenheit. Das tust du jedes Mal, wenn du zu den Sternen blickst. Weil sie so weit von uns entfernt sind, benötigt ihr Licht Jahre, Jahrzehnte oder auch viele Jahrtausende, bis es uns erreicht. Von unserem nächsten Nachbarn, dem Proxima Centauri, braucht es etwa vier Jahre bis zur Erde. Du siehst also im Grunde die Sterne nicht so, wie sie jetzt in diesem Augenblick sind – sondern so, wie sie vor langer Zeit waren. Und weil da oben Milliarden Sterne sind, wird es natürlich auch immer einen geben, dessen Licht – genau in dem Moment, wenn du ihn anschaust – auf den Tag so alt ist wie du. Anders ausgedrückt: Die Stunde unserer Geburt ist an den Himmel geschrieben. Nicht nur unsere eigene, sondern auch die unserer Eltern, Großeltern und Vorfahren. Wir haben sie nicht verloren, sondern bleiben mit ihnen verbunden – durch das Licht der Sterne.
Erst lange nach Mitternacht habe ich mich an diesem Wunder sattgesehen. Am frühen Morgen schlüpfe ich noch einmal aus dem Schlafsack und laufe ein paar Schritte hinaus auf die Wiese unter dem Aussichtsturm. Über mir ist eine fantastische Funkelstadt, die Plejaden stehen direkt über der Spitze des Turms. Hat der Meister der Scheibe sie so gesehen wie ich? Welche Rolle spielte das Siebengestirn in seiner Welt? Man kann ein ganzes Leben über solche Dinge nachdenken. Wirklich wissen kann man es nie. Und vielleicht ist es auch gut, wenn der Mittelberg ein paar seiner Geheimnisse und Rätsel für sich behält. Denn irgendwann einmal, vielleicht in 4000 Jahren, werden immer noch Menschen an diesen Ort kommen. Und sich Geschichten darüber erzählen. Und sich fragen, wer WIR waren.
Stephan Messner war schon als Kind auf seinen Fantasiereisen immer mal gerne mit Peterchen auf Mondfahrt. Konsequenterweise entwickelte der gebürtige Anhaltiner später eine nahezu unbändige Leidenschaft für die Astronomie – die darin gipfelte, dass er unbedingt ein eigenes Teleskop nebst Sternwarte haben musste. Und zwar 1999 – genau in dem Jahr, als die Himmelsscheibe gefunden wurde. Der seltsame Zufall hatte freilich wenig Einfluss auf Stephans Entwicklung, er kam weit von zu Hause weg und in der Welt herum, fing an Sterne zu fotografieren, fand über die Astro- zur Landschaftsfotografie und holte sich schließlich als Drohnen-Pilot sogar fotografisch ein Stück vom Himmel. Seine Zeitraffer-Projekte, die er in seinem Blog Skyimages teilt, sind inzwischen echte Überflieger. Für MDR Biwak war Stephan in Sachsen, Tschechien und Namibia unterwegs. Nun aber hat ihn die Himmelsscheibe – natürlich nur dank ihrer Sterne – nochmal zurück auf den heimatlichen Boden geholt. >>> Skyimages bei Facebook
Hartmut Landgraf lernte die Welt in seiner norddeutschen Heimat zuerst als Scheibe kennen – und ist daher bis heute von Bergen fasziniert, auch von ganz kleinen wie dem Mittelberg. Für den Wahl-Dresdner war es somit wohl kein Wunder, dass er schließlich auch beruflich im Gebirge hängenblieb, als Journalist und Outdoor-Blogger im sächsischen Elbsandstein. Sein Basecamp: Ein eigenes Abenteuer-Magazin namens Sandsteinblogger, das ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit draußen auf Trab hält. Rezept gegen Müdigkeit: Kaffee, am liebsten dick wie ein Schiffstau. Natürlich hat Hartmut längst begriffen, dass die Erde nicht flach, sondern eine Kugel ist, deshalb sollte auch die Geschichte über die Himmelsscheibe möglichst ein Rundumschlag werden. >>> Sandsteinblogger bei Facebook
Wieder einmal sehr schön geschrieben und zusammen mit den Bildern von Stephan ein sehr feiner Artikel, danke dafür.