In den Wäldern von Småland gibt es einen Ort, der in keiner Karte steht. Man kann ihn nur einmal im Leben besuchen. Denn wer ihn gesehen hat, findet sich nie dorthin zurück. Eine wahre Geschichte.
In Trollstuga wohnt kein Mensch. Zumindest jetzt nicht, im Winter. Wie der Ort wirklich heißt, tut hier nichts zur Sache – wir haben uns versprochen, ihn nie zu verraten. Eine Handvoll verlassener Schwedenhütten tief im Wald, allesamt windschief und schorfbraun. Die Fenster sind dunkel, die Schornsteine kalt. Um diese Jahreszeit geht hier nur der Wind ein und aus. Unten beim See liegen ein paar Boote bäuchlings im Schlick. Es ist so still, dass man das Wasser am Ufer glucksen hört. Wir sind allein weit und breit. Der Kaminofen bullert. In der Stube riecht es nach Holz und Rauch. Ein paar Kerzen brennen. Es ist Weihnachten.
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Wir haben die Zeit verloren. Vielleicht ist sie irgendwo bei Malmö falsch abgebogen. Wir brauchen sie nicht. Wir teilen den Tag jetzt in Bücher ein. Kein Internet, kein WhatsApp. Sendepause. Draußen platscht der Schnee von den Bäumen. Nebel nistet in den Zweigen. Manchmal regnet es auch. Die Tage dämmern vor sich hin – einer fauler als der andere. Man geht durch diese wintermüde Landschaft wie durch einen Traum und merkt es nicht mal. Und in dem beständigen Zwielicht bekommen selbst die vertrautesten Dinge allmählich wundersame Züge. Davon handeln in Schweden viele Geschichten.
Und eine handelt von Trollstuga. Sie klingt wie ein Märchen, aber sie ist wirklich passiert. Heiligabend vor einem Jahr: Im fahlen Nachmittagslicht mache ich unser Boot vom Ufer los und paddle alleine auf den See hinaus, ein Stück der Dämmerung entgegen. Zu dieser Jahreszeit setzt die blaue Stunde im Norden schon zeitig ein, spätestens halb fünf ist es stockdunkel – aber bis dahin bin ich längst zurück. Ich achte auf den Wind, der das Kanu mit sanftem Druck zur Mitte des Sees hindrehen will. Wenn ich ihm nachgebe, hat er sein Spiel mit mir. Also lasse ich ihn nicht. Gemächlich zieht das Ufer am Bug vorbei. Hin und wieder öffnet sich eine Bucht. Ich lausche den Paddelschlägen, lasse mich treiben und bin in Gedanken ganz woanders. Erst nach einer Stunde, bei den großen Felsklippen am Westende des Sees, mache ich schließlich kehrt.
„Da ist ein Dorf in der Nähe.“ Dana hat ihre nassen Schuhe zum Trocknen an den Ofen gestellt, drinnen knistert es heftig. Gierig lecken blaue Flammen über zwei unschuldige Birkenhölzer. Die Rinde rollt sich zu Ringen auf, dann ist sie plötzlich weg. Verpufft. Ich schaue mit leuchtenden Augen zu. „Du meinst Trollstuga.“ Sie schüttelt den Kopf. „Da waren Kühe.“ Es klingt unsicher, fast wie eine Frage. Einen Moment wird es still zwischen uns. Nur vom Dach her ist ein leises Ticken zu hören – dem Schornstein wird allmählich warm. Ich schiebe den Riegel zurück vor die Ofentür. Sie kennt die Landkarte so gut wie ich und schwedische Karten sagen in aller Regel die Wahrheit. Die Gegend ist so einsam wie der Mars. Wald. Ein paar stille Seen. Sommerhäuser, in denen seit Monaten kein Mensch mehr war. Weiß der Teufel, was sie gesehen hat. „Hier gibt´s kein anderes Dorf!“
Småland gehört zu den wenigen Landstrichen in Schweden, wo die Natur ein seltsam unbestimmtes Doppelleben führt. Dunkle Nadelwälder umschließen sonnige Wiesenhügel und märchenhafte Waldseen, inmitten von Birken und hinter moosgrünen Feldsteinmauern versteckt sich der eine oder andere uralte Eichenhain. Diese Landschaft ist weder Nord noch Süd, weder kalt noch warm, weder rau noch lieblich. Sie ist im Übergang – dazwischen. Und wo die Natur sich wandelt und sogar Bäume und Steine sich verändern, sind auch die Grenzen zwischen der empirischen und der metaphysischen Welt fließend und mitunter hauchdünn. Es ist sicher kein Zufall, dass ein paar der schönsten schwedischen Mythen und Märchen aus Småland stammen. Kaum ein Dachboden, auf dem nicht irgendein Gnom oder Rumpelwicht sein zwielichtiges Wesen treibt. Kaum eine Scheune, in der es nicht spukt.
Hinter Trollstuga biegt ein schmaler Pfad seitlich zum See hinunter und tiefer hinein in den Wald. Gleich nach Weihnachten machen wir uns auf den Weg. Ich will es mit eigenen Augen sehen – das Dorf mit den Kühen. Im Unterholz liegt der Schnee nass und knöcheltief auf dicken Moosmatten, von den Bäumen tropft mir das Wasser direkt in den Kragen. Der Tag ist so grau wie jeder andere. Wir wandern schweigend nebeneinander her, schlüpfen zwischen engstehenden Fichten und Birken hindurch, biegen um Felsen und Ecken. Es geht so lange bergauf und bergab, dass ich das unschöne Gefühl bekomme, längst über die Grenzen von Småland hinausgewandert zu sein – da ist der Weg plötzlich zu Ende. Die Bäume treten zur Seite und geben den Blick frei auf einen spiegelblanken See. Ein paar Häuser stehen dort einsam am Ufer, vor einem parkt ein Auto. Die Ortschaft liegt weit weg von Trollstuga am südlichen Ende der Landkommune, ich habe sie auf der Karte gesehen. Der See ist groß und erstreckt sich weit nach Nordosten, er hat aber keine Verbindung mit unserer Waldsiedlung. Das Dorf am Ufer existiert. Doch es ist nicht das gesuchte. Hier gibt es auch keine Kühe.
In den nordischen Ländern erzählt man sich in langen Winternächten am Kamin seit alter Zeit Geschichten vom kleinen Volk. Sanfte und gutmütige Wesen, die an stillen Orten wie Trollstuga wohnen – und deren Siedlungen unseren sehr ähnlich sind. Normalerweise bleiben sie uns verborgen, doch in den Raunächten und zu Weihnachten kann es manchmal sein, dass ein Stück ihrer Welt für einen kurzen Augenblick durchlässig für uns wird. So etwas passiert aber nur einmal im Leben. Wer einen solchen Ort mit eigenen Augen gesehen hat, so heißt es, findet sich niemals dorthin zurück. Gut möglich, dass ein Übermaß von Phantasie oder schwedischem Glögg einen Teil dieser Geschichten geschrieben haben. Aber hier draußen in den Wäldern von Småland wirken sie eigentlich gar nicht so märchenhaft.
Till geschrieben, und na klar, hier in Schweden findet man diese Stimmung danke…und Trolle und skogsfeen
Liebe Dana, lieber Hartmut.
voller Faszination und Hingabe habe ich Euren kleinen Beitrag über das geheimnisvolle Dorf gelesen und Eure Worte lassen mich nicht mehr los. Seit Tagen nun denke ich an diese wundervolle Geschichte und heute morgen, packte mich ein Entschluss. Ich muss diesen wundersamen Ort aufsuchen. Muss ihn mit eigenen Augen sehen. Über einen Tipp, der mir helfen könnte, das geheimnisvolle Dorf zu finden wäre ich unendlich Dankbar!
Ihr könnt mich jederzeit Kontaktieren!
Alles Gute Euch zweien und vielen Dank für diesen inspirierenden Beitrag!
Finn
Lieber Finn, es freut mich natürlich, dass Dir die Geschichte so gut gefällt – aber wir haben uns nun mal versprochen, den Ort nicht zu verraten. Denn für uns ist er sehr persönlich. Ich glaube aber, wenn man offen genug dafür ist, kann man solche magischen Orte in beinahe jedem Winkel der Welt finden. Man darf sie nur nicht zu sehr mit den Augen oder im Internet suchen 😉 Ich wünsch Dir dafür viel Glück! Hartmut
Zwischen Traum und Realität, Herrn der Ringe und Trollsagen. Wünsche mir mehr Zeit um solche geheimnisvollen Orte aufzusuchen. Bis dahin lese ich mal die anderen Geschichten auf Eurem Blog.