Finnlands größter Nationalpark ist das halbe Jahr über ein weißer Fleck auf der Landkarte. Menschenleer, still und verschneit – spätestens ab Oktober. Im nordischen Winter lernt man, was Abstand wirklich bedeutet. Und Nähe. Die Geschichte einer Sechs-Tage-Wanderung.
Wo die Straße und Finnland zu Ende sind, steht noch ein Haus. Das Café Ahkun Tupa. Drinnen bullert die Heizung, draußen ist Winter – jetzt schon, Anfang Oktober. Es liegt Neuschnee, fünf Grad Minus. Wir sind 300 Kilometer nördlich vom Polarkreis. Noch zwei Bier auf die Schnelle, dann packen wir unseren Kram zusammen. „In einer Woche sind wir wieder da“, sage ich zum Wirt. Der Mann nickt. „Hoffentlich“, sagt er und verzieht den Mund zu einem Grinsen.
Allein miteinander
Eine Woche ohne Kontakt. Für einen Mitteleuropäer schwer vorstellbar. Wenn wir daheim etwas im Überfluss besitzen, dann ist es Nähe. Unsere Lebensweisen und Beziehungen müssen so eng und präzise ineinandergreifen wie die Zahnräder einer Schweizer Uhr. Denn im Gehäuse drum herum ist wenig Platz. Ein Finne muss sich von seinesgleichen nicht so einengen lassen. Er braucht bloß hinter die nächste Fichte zu gehen. Alles im Norden ist weit: das Land, die Wege, die Nachbarn. Man steht auf einem Hügel und hat kein Netz. Sieht ringsum nichts als Freiraum. Hört keinen Laut. Nicht mal Hundegebell. Ganz plötzlich ist es da, dieses erst herbeigewünschte und dann fast bedrohlich reale Gefühl von – Abstand.
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Wir wollten es so. Zu zweit eine Woche lang mit Rucksack und Zelt durch die Wildnis am Lemmenjoki, Finnlands größten Nationalpark. Zu einer Zeit, wenn das nur noch ganz wenige machen – zum Winteranbruch. Man darf sich den Lemmenjoki-Nationalpark nicht mit den Maßstäben vergleichbarer deutscher Naturschutzgebiete vorstellen – er ist um ein Vielfaches unwegsamer und weitläufiger: 2850 Quadratkilometer arktische Wildnis, eine Fläche so groß wie Berlin, London und New York zusammengenommen und 30mal größer als der Nationalpark Sächsische Schweiz. Eine Gegend, in der man verloren gehen kann. In den Wäldern sind Elche, Bären, Vielfraße und Wölfe zu Hause. Über die baumlose Tundra oberhalb des Flusstals ziehen im Sommer die halbwilden Rentierherden der einheimischen Sami. In einigen versteckten Winkeln des Nationalparks suchen wagemutige Einzelgänger in der warmen Jahreszeit nach Gold. Im Winter, wenn die Temperaturen hier oft unter minus 40 Grad Celsius fallen, wird der Boden steinhart und macht jede Arbeit unmöglich. Der Einzige, der das ganze Jahr über in dieser Wildnis lebte, war Raimo Kanamäki – Ich bin ihm begegnet, vor zwei Jahren. Damals war er 70 Jahre alt. Inzwischen verbringt auch er den Winter lieber im Süden. Wir sind in diesem Jahr vielleicht die Letzten hier draußen.
Erste Wildnisgeräusche
Weit kommen wir am ersten Tag nicht. Zwei Kilometer hinterm Dorf holt uns die Dunkelheit ein. Ich baue das Zelt auf und mache Feuer, Dana richtet das Lager ein und bringt mit ihrem untrüglichen Instinkt für verschwundene Dinge Ordnung in unseren Haufen mitgeschleppter Habseligkeiten. Sowas ist auf unseren Touren eingespielte Routine. Alles fügt sich wie von selbst zu einer natürlichen, archaischen Ordnung. Männersachen. Frauensachen. Die Aufteilung des Gepäcks. Die Frage, wer Holz hackt. Wer beim Packen an die Schokoriegel denkt. Oder im Zweifel die Nadel im Heuhaufen findet. Teamwork ohne Diskussionen.
Das Abendessen fällt aus, wir verkriechen uns in die Schlafsäcke. Draußen knistert die Glut in der Feuerstelle – noch eine Weile, dann ist es still. Nur ein paar Schneeflocken rieseln noch leise die Zeltwand hinab. Die Dunkelheit empfängt uns mit eisiger Umarmung, wir ziehen die Kapuzen tief ins Gesicht. Mir steckt noch der deutsche Oktobersommer in den Gliedern, an den finnischen Oktoberwinter muss ich mich erst gewöhnen. Doch in meinem Kunstfaserkokon liege ich bald wie eine Sardine im eigenen Saft. Ich schwitze, wälze mich herum. Vom Bauch auf den Rücken und umgekehrt. Der Schlaf schaut schadenfroh zu. Und während ich vergeblich auf ihn warte, bekommen meine Gedanken Beine.
Wir sind kaum mehr als eine halbe Stunde tief in die Wildnis hineingewandert, aber es fühlt sich schon an, als wären wir Meilen und Tage entfernt. Ist da überhaupt noch eine Welt um uns herum? – Man hört sie nicht. Da! Aus der Tiefe der Nacht trabt sie heran. Ganz plötzlich und mit großen Sätzen. Sie klingt gewichtig. Knirschen im Schnee, Geschnüffel – ein leises, heiseres Grollen. Irgendetwas schleicht ums Zelt. Fast kann ich seinen Atem durch die Stoffwand spüren. Ein streunender Hund aus der Siedlung? Oder ein Wolf? „Heejii!“ Ein kurzer, scharfer Ruf in Richtung Finsternis genügt – und der Spuk ist vorbei. Nichts regt sich mehr draußen, den Rest der Nacht haben wir Ruhe. Wir finden keine Spuren am Morgen.
Der alte Goldhafen
Der Kultareitti-Trail führt von Ahkun Tupa am Fluss stromaufwärts zwei Tagesmärsche tief in den Nationalpark hinein, steigt dann Richtung Westen ins Hochland hinauf, um schließlich im großen Bogen nordwärts aus der Tundra zurück zum Ausgangspunkt zu kehren. Es dauert ungefähr sechs Tage, um ihn komplett abzulaufen. Im Sommer machen sich jede Woche Gruppen von Rucksackwanderern auf diesen Weg – doch im Oktober verschwindet er unterm Schnee, die letzten Wanderer verlassen das Gebiet und die Landschaft kehrt für Monate in ihren Urzustand zurück. Nichts deutet dann mehr darauf hin, dass schon jemals Menschen durch dieses Tal gelaufen sind. Nur hier und da führt ein alter, einsamer Brettersteg vom Ufer weg wie eine Brücke heim in unsere Welt – aber erst, wenn im Mai das Eis aufbricht, kommen wieder Boote den Lemmenjoki hinauf.
Europas letzter Goldsucher
Seit über 30 Jahren gräbt Raimo Kanamäki im arktischen Norden Finnlands nach Schätzen – im Lemmenjoki-Nationalpark. Eine wahre Geschichte über das Leben in der Wildnis. Exklusiv in der Druckausgabe des Sandsteinbloggers – hier bestellen!
An einem dieser Stege stehen volle Benzinkanister im Schilf, dahinter ein paar Quads im Wald, eingepackt in dicke Armeeplanen. Ein Bild wie aus einem utopischen Film: Die Erde ist ein Ort voll stiller Maschinen, wenn sich die Menschheit zugrunde gerichtet hat. Dieser hier jedoch ist ein historischer: Kulta Hamina, der alte Goldhafen. Einst sind hier Jahr für Jahr Hunderte Prospektoren und Digger in die Wälder am Lemmenjoki aufgebrochen, den Spaten im Gepäck – das Glück vor Augen. Wir hingegen sind seit zwei Tagen keinem Menschen mehr begegnet. Der verlassene Hafen erzählt eine Geschichte, die sich nicht wiederholen wird. Denn die finnische Regierung hat entschieden, dass die Goldgräberei im Nationalpark nun endgültig ein Ende haben muss – schon im nächsten Jahr, 2020. Danach sollen hier die letzten verbliebenen Digger ihre Claims räumen, binnen zwei Jahren glattplanieren und der Natur zurückgeben. Auch Raimo muss sein Land dann verlassen.
Die Natur wird es freuen. Doch es liegt auch etwas Wehmütiges in dieser Geschichte und über Kulta Hamina. Selbst hier ist die Welt anscheinend schon zu eng geworden für Menschen wie Raimo, die ihr den Rücken kehren wollen. Die Zeit der großen Abenteuer ist vorbei. Wir nehmen die Rucksäcke von den Schultern und rasten einen Moment in der verwaisten Schutzhütte oberhalb des Hafens. Die Schokolade findet sich – wie könnte es anders sein – in Danas Rucksacktaschen.
Zur Blockhütte Morganmojan
Die Temperatur hält sich bislang knapp unter dem Gefrierpunkt, aber das Wetter hat sich verschlechtert. Schneetreiben setzt ein und nimmt uns die Sicht. Wir bleiben dicht beieinander – denn Spuren sind trügerische Orientierungshilfen, schnell fehlgedeutet, schnell verweht. Wir haben nur ein GPS-Gerät und nur eine Karte. Der Weg in die Berge ist stellenweise vereist und glatt, allmählich machen sich auch unsere 30-Kilo-Kraxen bemerkbar. Trekking ist eine einprägsame Erfahrung – ganz besonders für die Schultern.
Genau diesen Weg bin ich vor zwei Jahren mit einem Quad zu Raimos Hütte hinaufgefahren, doch diesmal erlebe ich ihn ganz anders – er verliert sich in der Landschaft wie eine Geschichte, die kein richtiges Ende hat. Ich weiß, irgendwo vor uns muss Morganmojan sein, eine einsame Blockhütte im alten Abbaugelände. Die Forstverwaltung lässt sie den Winter über unverschlossen, falls sich mal ein Jäger oder Skifahrer dorthin verirrt. Die Hütte ist dickwandig, hat einen Ofen, sogar einen Gasherd und eine Kiste voll Konservenproviant unterm Bett. Wenn draußen Stürme über die Tundra fegen, könnte man es dort wohl eine Weile aushalten und auf besseres Wetter warten, ohne zu verhungern. Ich hoffe aber, das bleibt uns erspart.
Licht hinterm Horizont
Sie kommen ohne Ankündigung und verzaubern die Nacht – Nordlichter. Als wir sie zum ersten Mal beobachten, vor vielen Jahren in Südschweden, weben sie nur wenige Minuten als zarter Schatten über dem nördlichen Himmel. Hier in Lappland, kaum mehr als 2000 Kilometer vom Nordpol entfernt, leuchtet nachts der ganze Himmel in ihrem stillen Licht. Magisch blassgrün oder zartgelb, manchmal auch rötlich, sanft und weich wie eine Melodie von Chopin. Es beginnt hinterm Horizont und wiegt sich in wiederkehrenden Wellen wie Steppengras zwischen den Sternen. Widerschein einer himmlischen Welt, die so viel friedlicher ist als unsere. Die ganze Seele des Nordens liegt in diesen Lichtern. Wer sie nie zuvor erlebt hat, schaut andächtig und staunend zu ihnen hinauf – und freut sich wie ein kleines Kind. Am Lemmenjoki sind sie fast jeden zweiten Abend über unserem Lager.
Inzwischen haben wir gelernt, unser Staunen zu beherrschen, bis die Kamera in Stellung und ein paar gute Fotos auf der Speicherkarte sind. Aber ich habe ein seltsames Gefühl dabei. Immer kommt es mir so vor, als beginge ich damit ein Sakrileg. Als würde ich der Nacht ihre Unschuld nehmen. Mir etwas zu eigen machen, was mir nicht gehört. Auf einer anderen Reise hat mir ein Outdoor-Guide eine ähnliche Geschichte erzählt: Er versammelt im Winter Gruppen von Fotografen zu regelrechten Treibjagden auf die sanften Lichter, sie benutzen eine App, um den Zeitpunkt ihrer Hatz zu bestimmen, jagen ihnen mit Schneemobilen kreuz und quer durch die Tundra hinterher. „Capture!“ – Getroffen! hallt es durch die Nacht. Zwei Stunden später ist das Bild auf Facebook. Die Magie ist Teil des Reisevertrags. Manchmal habe ich Angst, dass wir am Ende jedes bisschen davon aus unserer Welt vertreiben.
Ich packe die Kamera weg, lege mich am vereisten Ufer des Lemmenjoki auf den Rücken und starre hinauf zum Himmel. Die Jacke hält die Kälte nur einen kurzen Moment zurück – aber das ist mir egal.
Greise Bäume, blutige Beeren
Je weiter wir kommen, umso kürzer werden unsere Etappen. Am vierten Tag wandern wir 14 Kilometer, dann neun, dann sechs. Nicht, weil uns vom vielen Gepäck und dem tagelangen Schneestapfen allmählich die Puste ausgeht – sondern weil wir gar nicht wirklich ans Ziel gelangen wollen. Unschön am Kultareitti-Trail ist nur, dass er irgendwo ein Ende hat. Wir machen unterwegs häufig Halt, setzen die Rucksäcke ab, um die Schultern zu entlasten, Tee zu trinken und all die Kleinigkeiten zu bewundern, mit denen uns die Natur hier draußen so maßlos beschenkt: steinhart gefrorene Birkenpilze, auf denen man herumklopfen kann wie auf einem Stück Holz, greise Kiefern mit langen Flechtenbärten, eisverkrustete Beeren, die zwischen den Fingern zerplatzen wie Springkraut, um dann theatralisch im Schnee zu verbluten – das Licht, das am frühen Nachmittag den ganzen Wald zum Leuchten bringt.
In den Wäldern wachsen Bäume jeden Alters – auch der Tod hat viel Platz – zerzauste Wipfel, geborstene Stämme. Manche scheinen sich im Laufe ihres Daseins mehrfach um die eigene Achse zu drehen als würden sie tanzen, andere drängen und schießen auf kürzestem Weg zum Licht. Aber kaum einer ist so gewachsen, dass sich gute gerade Bretter daraus schneiden lassen – die meisten sind so verdreht und widerspenstig wie das Leben. Dana steckt immerfort ihre Nase ins Moos und fotografiert, was es dazwischen Schönes zu finden gibt. Ich schaue ihr oft einfach bloß zu. Einmal vergammeln wir eine sonnige Mittagsstunde auf einem Holzsteg am Ufer. „Willst du heim?“ Sie schüttelt den Kopf.
An einer Engstelle überqueren wir den Lemmenjoki und steigen an seinem Ostufer gemächlich hinauf ins Hochland. Einmal wenigstens noch. Wir nehmen einen Umweg, verlängern unsere Wanderung absichtlich um 18 Kilometer. An diesem Abend teilen wir uns das letzte Stück schwedische Schokolade. Ich muss an den Wirt in Ahkun Tupa denken. Nur einen Tag noch, dann sehen wir ihn wieder. „Hoffentlich“ hatte er zum Abschied gewitzelt. Fast wünschte ich, es wäre daraus Ernst geworden.
….da habe ich mich an vielen Stellen wiedergefunden. Fast als wäre ich mitgewandert.
Danke, tarja