Die Weinertwand am Vexierturm gehört zu den großen Abenteuern im Elbsandstein, die einen nie wieder loslassen. Wer den Weg einmal geklettert ist, bleibt ihm verhaftet. In Gedanken – oder am Seil. Bis es nicht mehr geht.
Text: Bernd Arnold
Nimbus
Schon früh, als 14-Jähriger, stand ich zum ersten Mal unter dieser Wand. Mein Mentor Adolf Kozemba (Gründer der Bergfreunde Hohnstein) nahm mich dorthin mit – ich selbst hatte damals keine Ahnung, was mich erwarten würde. Michael Schubert sollte unser Vorsteiger sein. Eigentlich ein körperlich starker junger Mann, doch der Eindruck der sich über ihm aufbauenden Wand lähmte ihn so stark, dass er den ersten Ring nicht erreichte. In mir, dem großen Kind, war der Nimbus „Weinertwand“ geboren.
Man muss etwas über die Geschichte dieser Wand wissen, um zu begreifen, was für ein Abenteuer mir da bevorstand: Der schlanke 80 Meter hohe Felspfeiler über dem Amselgrund bei Rathen wurde erstmals 1902 von zwei Pirnaer Bergsteigern durch Seilwurf erstiegen, deshalb auch kurzzeitig als Simon-Köhler-Spitze bekannt. Der Name Vexierturm ergab sich wohl aus der Tatsache, dass er sich nicht deutlich genug vom Massiv der Großen Gans abhebt. Die erste sportliche Besteigung gelang Oliver Perry-Smith, Rudolf Fehrmann, Arthur Hoyer und Oskar Elsner am 17. September 1905. Wenngleich es an diesem Felsen heute mehr als ein Dutzend verschiedene Routen und Varianten gibt, so ist doch eine davon in aller Munde: die „Weinertwand“ (früher auch als „Lange Wand“ bezeichnet). Ihre Erstbegehung am 9. Juni 1912 durch Eduard Weinert und Otto Lugenheim gilt als Meilenstein der Wandkletterei und ist bis in die Gegenwart eine großartige und durchaus ernsthafte Unternehmung.
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Erfolg und Niederlage
Am 24. Juni 1962 sollte es dann bei mir soweit sein. Inzwischen war ich 15 Jahre alt, hatte mir durch vieles Klettern Selbstvertrauen erworben und glaubte, dem Anspruch gewachsen zu sein. Micha schloss sich mir gern an und brachte zur moralischen Stärkung noch Hans Woike mit. Zum Glück waren wir allein am Einstieg, keine anderen erfahreneren Bergsteiger in der Nähe. Erst am zurückliegenden Sonntag hatte ich am Dietrichweg der Jungfer eine harte Belehrung über mich ergehen lassen müssen. Wegen meiner bisherigen Gewohnheit, mich mit einem Knoten auf dem Rücken anzuseilen, erfuhr ich harsche Kritik. Ich nahm mir die Sache an und wollte fortan alles richtig machen, aber die Verunsicherung blieb.
An der Wand lief jedoch zunächst alles gut – ohne Zwischenfall erreichten wir den Gipfel, leichtfüßig konnte ich ja unterwegs sein. Nur mein Eintrag im Gipfelbuch verrät bis heute, wie aufgeregt ich war: Versehentlich datierte ich unseren Aufstieg ins Jahr 1922 zurück.
Nun kommt es, das Abseilen! Die Abseile am Vexierturm zählt für mich heute noch zu den abenteuerlichsten im Elbsandstein. Wir seilten ab (zwei 45-Meter-Seile aneinandergebunden), beachteten den Umstieg nach ca. 10 Metern an der Gegenwand nicht und erreichten das Band in der Schlucht. Unsere etwas benutzten Dederon-Seile ließen sich nicht abziehen, sicherlich auch stümperhaft verdreht. Inzwischen war Bewegung in der Weinertwand. „Wenn ihr wartet, können wir die Seile dann runter werfen“, rief man uns zu. „Habt ihr denn die zweite Abseilstelle nicht gesehen?“ Schon wieder eine Belehrung! Nein, ich werde nicht warten! Durch einen dreckigen Kamin gelangte ich auf die Massivseite und konnte die Seile bergen und die Gefährten auf dem Band retten. Die Demütigung durch eigenes Verschulden wirkte noch lange nach.
Training und Nähe
In der Zeit meines täglichen Trainings war mir die Weinertwand sehr nah. Je nach Zielstellung ergaben sich auch lange Dauerläufe, die ich mit Soloklettereien kombinierte. Über den Hockstein nach Rathen – die Weinertwand zur Bastei – über Rathewalde zurück. Und das in ca. 2,5 Stunden. Meine damalige Motivation – bewusste psychische Belastung.
Aussichten und Ideen
24. August 1974. Bulgarienklettern war beendet, noch ein Tag Zeit bis zum Arbeitsbeginn. Die Wand zum gemeinsamen Genießen. An den Standplätzen (wir holten an jedem Ring nach) galt meine Aufmerksamkeit außer Christine (wir kannten uns erst zwei Jahre) auch der Nordwand der Amselspitze. In Gedanken war die Linie projektiert. Anschließend gab es noch den ersten Versuch (bis zum Ende der Rissspur/2. Ring). Bis zur Verwirklichung des Vorhabens („Schallmauer“, 1982) gab es aber noch viel zu tun.
Noch immer eine Versuchung
„Auf klassischen Routen 2017“. Das Füllhorn ist maßvoll und mein Speicher war leer. Mein Körper kann den von mir gewünschten Anforderungen nicht mehr folgen. Realismus zur eigenen Beurteilung ist gefordert. Es war und ist mir auch weiterhin ein Bedürfnis, meine Freude am Klettersport an andere weiter zu geben. Die Ergebnisse werden dankend angenommen. Für ein paar langjährige Gäste (Wiederholungstäter), auf der Basis ihres Könnens und historischen Wissens, war es an der Zeit die Weinertwand zu klettern. Dem Wunsche und der eigenen Herausforderung beugte ich mich. Aufgabe erfüllt! Jedoch es war ein Wandeln auf des Messers Schneide. Inzwischen ist an mir „herumgedoktert“ worden und ich bin optimistisch, dass mir die „Weinertwand“ auch weiterhin erlebbar bleibt.
Allen, die sie selbst kennenlernen möchten, wünsche ich viel Freude an dieser Wand, beim Klettern und der Gipfelrast.
Bernd
Fortsetzung folgt: 3. Mai 2019
*Quellen:
- „Die Namen unserer Klettergipfel“, H. Pankotsch, D. Heinicke, SBB 2013
- „Chronik und Dokumentation zur Geschichte von Wandern und Bergsteigen in der Sächs. Schweiz Teil 1“, Joachim Schindler, Dresden 2002
- „Felsenheimat Elbsandstein“, D. Hasse, L. Stutte, 1979
Bislang sind erschienen:
- Hartmannweg am Vorderen Gansfelsen >>> zum Beitrag
- Schusterweg am Talwächter >>> zum Beitrag
- Weinertwand am Vexierturm
- Große Hunskirche >>> zum Beitrag
Über die Weinertwand
Historische Wegbeschreibung nach Rudolf Fehrmann, 1922: Durch die südöstl. Schmalseite. Von der Kluft südlich des Turmes ausgehend an der Südkante wenige Meter hoch zu Überhang, rechts queren zu Ring. Rechts haltend kurzes Stück zu 2. Ring. Dann die Wand gerade hoch, zu 3. Ring. Lange, brüchige Rinne z.G. (Die Unterstützungsstelle am 1. Ring fand keine Erwähnung).
Klettertipps (Bernd Arnold): Nach dem Einstiegskamin in der Einschartung Stand machen. An der Kante, dort wo es steil wird, Sanduhrschlinge. Vor der Querung zum 1. Ring Plattenschlinge zur Seilführung für den Nachsteiger legen. Heute befindet sich der 1.Ring oberhalb des Überhanges, sodass der Versuch ohne Unterstützung keinen fatalen Sturz ergibt. Also probiere es ohne! Am 2. Ring für den Nachsteiger links eine Plattenschlinge legen. Er dankt es dir. Das folgende Wandstück ist anhaltend und bedarf Ruhe und Übersicht. Bei aller Aufregung, die eigene Atmung nicht vergessen. Außerdem kann man mit etwas Übersicht einige gute Knotenschlingen (vornehmlich Bandknoten) unterbringen. Nach dem 3. Ring wird’s leichter, trotzdem gute Schlingenmöglichkeiten nicht auslassen. Stand an jedem Ring und beim Nachholen am Gipfel sich reichlich nach unten verlängern, damit der Sprechkontakt erhalten bleibt. Und dann an die Abseilstellen (3x) denken! So wird es gelingen.
Die Erstbegehung 1912: Im Mai 1912 unternahmen vier Kletterer vom Klub „Empor“ (Ernst und Kurt Rost begleitet von Otto Lugenheim und Ernst Kaiser) den ersten bekannten Versuch. Immerhin erreichten sie das überwölbte Band und setzten, an der Schwachstelle des Überhanges, den ersten Sicherungsring. Am Sonntag, 9. Juni, waren die Emporer wieder zur Stelle, diesmal mit Eduard Weinert. Dem begabten 21-jährigen Burschen („Ede“) war schon die Erstbesteigung des Wotanskegels gelungen, also ein Hoffnungsträger des Klubs. Dieser Erstbegehung wurde im „Dresdner Anzeiger“, Sonntagausgabe 14.10.1934, von Erhard Otto Roßberg ausführlich beschrieben. Heute nachzulesen im Kletterführer Sächsische Schweiz, Berg-& Naturverlag Rölke, Dresden 2016 und im Elbsandsteinführer, Panico-Alpinverlag 2012:
„Hell und klar stieg der denkwürde 9. Juni 1912 über die Rathener Berge herauf. Schwer bepackt mit Seilen und Kletterschuhen, mit Hammer und Meißeln schlich man sich wieder heimlich an den Fuß des Felsens…. Rings auf den umliegenden Berghöhen hatten sich Kameraden aus befreundeten Klubs, Daxensteiner, Gipfelstürmer, Gamsspitzler, Wettersteiner und viele andere mehr, eingefunden…. Mit Fernglas am Auge harrte man der Dinge…. Kurz nach 7 Uhr stieg Weinert in die mächtige Wand ein…. Kurt Rost stieg nach. Unter dem Überhang unterstützte Rost durch Übereinanderstellen Weinert…. Etwa acht Meter weiter, wo die Wand brüchig und senkrecht wird, schlug Weinert erneut einen Sicherungsring in den Fels und ließ Rost nachkommen. Nun standen beide mitten in der gigantischen Felswand. Fein, zarte Griffe nur…. Mitten in der Wand brach Weinert ein Griff aus. Fast wäre er gestürzt. Seine famose Klettertechnik, der Grundsatz, alles mit den Beinen zu ersteigen, Hände und Arme nur zur Gleichgewichtsunterstützung zu benützen, rettete ihn. … der losgebrochene Griff traf den tieferstehenden Kurt Rost schwer am Kopf. Rost blutete stark. Doch er harrte aus…. In etwa 70 Meter Höhe der Wand fand Weinert wieder notdürftig Stand in einer Felsverschneidung. Dort schlug er mit letzter Kraft den dritten Sicherungsring, denn noch lagen 35 Meter senkrechte Wand über ihm. Der getreue Zweite, Rost, musste den Kampf aufgeben, Er seilte ab. Dafür stieg Otto Lugenheim in die Wand hinauf, bis er Weinert erreicht hatte. Es war inzwischen Mittag geworden…. Die Spannung stieg ins Unendliche. Nur ganz langsam kam Weinert vorwärts, fast Zentimeter für Zentimeter. Das lange schwere Seil zog nach rückwärts…. Dann lag die letzte Wölbung der Wand unter ihm. Der 21jährige richtet sich auf…. Heil Empor! Die Bergfreunde hatten es geschrien. Die kühnste aller Wände war gefallen…. Schlicht und einfach schrieben die beiden ins Gipfelbuch: Erste Begehung der Südostwand. Talseite. E. Weinert „Empor“, Otto Lugenheim „Empor“.… Am Fuße des Felsens hatte sich inzwischen der Forstgendarm eingefunden. Es gab ein Strafmandat über rund 40 Mark. Sie wurden mit Stolz und Würde bezahlt“.
Weitere Begehungen: Erst ein Jahr später, am 30. Mai 1913, gelang Karl Ullrich mit Karl Hradezky die 2. Begehung. Dazu aus einem Brief von Karl Ullrich: „Mit Radi ging ich zu einem neuen Versuch aus. Um den vielen Sonntagswanderern kein Schauspiel zu geben, da auch nicht zu sagen war, wie es ausgehen würde, haben wir das Unternehmen am Freitag, dem 30.5.1913 nachmittags 4 Uhr gestartet. Radi hatte das erste und dritte Stück geführt. Ich das Mittelstück, wobei ich allen unsicheren Griffen aus dem Wege ging und mich an kleinste feste Griffe hielt. Das Stück muss wohl 16 bis 18 m lang sein. Auf halber Höhe, rechts draußen an der Kante, habe ich 1 Stunde gestanden, ehe ich mich weiter wagte. Dr. Rudolf Fehrmann, Oliver Perry-Smith, Gebrüder Kippe und Arzt Dr. Mäser waren als Zuschauer anwesend.“ Man war auf alles gefasst und hatte den Arzt gleich mitgebracht.
Wieder ein Jahre später, am 23.5.1915, erfolgte die 3. Begehung durch die Schandauer Kletterriege geführt von Rudolf Klemm. Einige Todesstürze ereigneten sich auch, so 1921, Erhardt Renger bei einem Free-Solo-Versuch (es wäre seine 11. Besteigung gewesen).
Die Erstbegeher:
Eduard Weinert / „Ede“ (geb. 1891; gest. 1962). Er lebte in Dresden-Loschwitz, war gelernter Kaufmann und Abteilungsleiter eines Sportgeschäfts. 1909-1962 Mitglied von KV Empor 07, SBB, ÖTK Sektion Dresden. Ersttouren: 1908 Wartturm-Bergbrüderweg, 1910 Wotanskegel und Kammnadel, 1912 Vexierturm-Weinertwand. Am 7. Oktober 1951 hat Ede Weinert (60 Jahre) diese Wand unter Führung einiger jüngerer Klubfreunde nochmals durchstiegen. Wofür ihm vom Klub „Empor“ eine Urkunde verliehen wurde.
Otto Lugenheim (geb. 1888; gest. 1919, Absturz Schiefer Turm Ostkante). Er lebte in Dresden als Lehrer. Bedeutende Erstbegehungen: Hirschgrundkegel-Emporkante, Spannagelturm-Südostwand. 1009-1919 KV Empor 07, SBB.
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