Von der Ästhetik des Klettersports

Keine Kletterstelle existiert zweimal. Ein Kletterer muss ständig neue Bewegungsaufgaben lösen. Nicht nur, um die Schwierigkeit zu überwinden.

Von Bernd Arnold

Eine Tatsache: Klettern gehört zu den ursprünglichen Bewegungsformen der Menschen, ist also eine natürliche Fähigkeit. Heute tritt uns dieser Naturtrieb im Spiegel entwicklungsgeschichtlichen Wissens, als Sport in weitgefächerter Form entgegen. Das Ringen um Balance im Spiel der körperlichen und seelischen Kräfte hat Priorität.

Wir klettern aus Freude!

Die sich für uns dabei ergebenden Empfindungen erschließen sich im Begriff der Ästhetik (altgriechisch aistesis), in sinnlicher Betrachtung von Schönheit und Harmonie innerhalb natürlicher Gegebenheiten. Entsprechend unseres individuellen Einflusses begegnen wir ihr in Form der körperlichen Bewegung und beim Aufenthalt im umgebenden Raum (vorzugsweise Natur), der von Harmonie geprägt ist. Von der Leichtigkeit, sich zu bewegen, geht eine Faszination aus, welche auch den Bedürfnissen nach Freiheit, Unabhängigkeit, Abenteuer und individueller Grenzerfahrung gerecht wird. Das weite Feld reicht bei diesem Kräftespiel vom nüchternen Bewegungsablauf bis zur Meditation, ist in den Raum (Natur oder Halle) gestellt und kehrt auf diesem Umweg mentaler Verfeinerung zu uns zurück.

Am Doggenturm: Keine Kletterstelle existiert zweimal. (Foto: Hartmut Landgraf)

Meine Selbsterfahrung

Der Kletterstil: Vielleicht hätte mir an dieser Stelle mehr Kraft oder eine andere Technik, oder aber auch eine andere Einstellung (Blickwinkel) zum Erfolg verholfen, oder zumindest die Stimmungslage verbessert? Es kann also nützlich sein, sich „auf neue Pfade“ zu begeben und sich nicht ausschließlich der Pflege des eigenen Stils zu widmen.  Auch im Kreise von Seilgefährten liegen Kletterstile und Einstellungen zum Klettern oft „seillängenweit“ auseinander. Das bedingt sich, neben dem Persönlichkeitsprofil, daraus, dass Klettern eine sogenannte „offene Bewegungsfertigkeit“ darstellt (Im Gegensatz zum Kunstturnen mit fest gefügten Abläufen). Keine Kletterstelle existiert zweimal. Das heißt, der Kletterer muss laufend neue Bewegungsaufgaben lösen, womit sich eine Vielzahl von Möglichkeiten der Ausführung ergibt. Ein Beispiel: Eingedrehte Körperpositionen bieten sich oft als geeignete Bewegungstechnik zum kraftsparenden Überwinden von überhängenden Passagen an, alternativ zum kraftvollen Durchziehen aus frontaler Position. Sie können aber durchaus auch als Selbstzweck zum Gestalten von ästhetischen Körperbewegungen gesehen werden. Auf diese verschiedenen Sichtweisen hat unsere gegenwärtige Gemütslage einen erheblichen Einfluss.

Auf Dauer hilft nicht nur Power – Schwierigkeiten mit Leichtigkeit überwinden!  Dass hier nicht rohe Kraft zum Erfolg führt, sondern ein hohes Maß an Körperbeherrschung und Körpergefühl, erkennen wir spätestens dann, wenn ein Riss-Spezialist am Werke ist: Lautloser, eleganter Höhengewinn ohne hektisches Scharren durch gezielten und dosierten Einsatz der Körperspannung, weiten Spreizstellungen und unterschiedlichste Klemmtechniken geben uns, als Beobachter, das Gefühl eines „Tanzes in der Vertikalen“.

Am Johanniskegel: Sucht nach dem Bauchgefühl. (Foto: Hartmut Landgraf)

Wir alle haben es schon erlebt, dieses „Bauchgefühl“ (es wird warm) nach gelungenen Bewegungsabläufen. Auf Grund der vielfältigen Bewegungserfahrungen wächst im Laufe der Jahre unsere Sensibilität für dieses Bauchgefühl (eine „Sucht“ es immer wieder zu erlangen) und jeder lernt dabei mit seinen Schwächen und Stärken umzugehen. Somit spielt unsere eigene Vorstellungskraft, auf der Basis unseres Bewegungsspeichers, uns möglichst ökonomisch ins Ziel zu bringen, eine entscheidende Rolle. Im Höchstmaß empfinden wir ein harmonisches „Eins-Sein“ mit Körper, Geist und Naturraum.

Perspektive

Positiv auf unsere Weiterentwicklung des „klettersportlichen Ich“ wirkt sich die bewusste und kritische Bewertung der eigenen Kletteraktivitäten aus. Bleibt diese aus, könnten andere Aspekte des Kletterns unerkannt bleiben und nicht erlebt werden. In diesem Zustand könnten sich Verschlossenheit für andere Sichtweisen des Kletterns, Verständnislosigkeit oder gar Intoleranz entwickeln. Als Beispiel sei die manchmal rüde Umgangsweise zwischen „Plaisir-“ und „Clean-Kletterern“ genannt, die sich jeweils durch grundlegend ablehnende Haltung gegenüber dem anderen auszeichnet und die sogar schon teilweise in zerstörerischen Maßnahmen geendet haben (z.B. Absägen von Sicherungsringen oder „Übersichern“ einer Abenteuerroute). Am einfachsten ist es, andere Verhalten unvoreingenommen auszuprobieren und sich dabei überraschen zu lassen. Das Gesamterlebnis wird in den Vordergrund gestellt. Je mehr Perspektiven einem Klettertag Sinn verleihen, desto mehr kann der gesamte Verlauf zur sportiven Idee werden als nur das „Endergebnis“. Der Wert des tatsächlich Gekletterten besteht dann nicht im erreichten Schwierigkeitsgrad, sondern erschließt sich aus unserer Wahrnehmung des gesamten Klettertages.

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