Tagesziel Meisterklasse!

Kletterer an einer Felskante, im Hintergrund Landschaft im Sonnenlicht
Rainer Treppte am Meurerturm, Route Zehn. (Foto: Martin Richter)

Sie zählen zu den schwersten und eindrucksvollsten Felsklassikern im Elbsandstein: die sogenannten Meisterwege. Zwölf davon in einem Jahr. Das galt früher als Spitzennorm. Kann man das auch an einem Tag schaffen? Zwei Kletterer haben es jetzt versucht.

Von Sunny Tietze

Der Wald schläft noch, bloß wir sind schon wach. Es ist Sommer, ein Julitag 2020 – morgens halb vier. Unser Treffpunkt ist der Meurerturm in den Schrammsteinen. Wir sind zu viert: die zwei Hauptpersonen Martin Treiber (58) und Rainer Treppte (61) – beide begabte und ambitionierte Kletterer – dann der Fotograf und Autor Martin Richter und ich. Noch mit Stirnlampen geht jeder ziemlich wortlos und müde, aber hochkonzentriert seiner Aufgabe nach. Martin Richter klettert auf einen Nebengipfel des Meurerturms, um sich in Foto-Position zu bringen, und die beiden Akteure sortieren sich und ihre Schlingen und Karabiner. Es ist still, nur irgendwo fiept es mal – vielleicht ein Bilch. Der Mond senkt sich langsam dem Horizont entgegen.

Kletterer an Felswand überm Elbtal
Der Tag fängt richtig gut an: Herrliches Morgenlicht, Elbnebel und Route Zehn am Meurerturm. (Foto: Sunny Tietze)

Es dämmert, als Martin Treiber in den ersten Weg einsteigt – die Westwand am Meurerturm, Schwierigkeit VIIIb, erstbegangen von Harry Rost und Gefährten im Jahre 1949. In diesem Level wird es heute den ganzen Tag weitergehen. Sie werden einen Gipfel hinaufsteigen, abseilen, und dann zum nächsten Felsen wechseln oder am selben wieder von vorn anfangen, manchmal auch ein drittes Mal – nur eben auf verschiedenen Routen.

Fragt sich bloß warum! Dazu gibt es eine faszinierende Geschichte in den Annalen des sächsischen Bergsteigens. Ansporn für das ganze Unternehmen ist nämlich eine Sportklassifizierung aus DDR-Zeiten, die in Kletterkreisen damals als Spitzennorm galt – die sogenannten Meisterwege, die härteste Reifeprüfung, die es für einen Elbsandsteinkletterer gab. Im Internet findet man dazu eine >>> Liste aus dem Jahr 1974. Es heißt, wer zwölf dieser Wege (alle in der Schwierigkeit VIIIa bis IXb) in einem Jahr geklettert hatte, durfte sich zur Meisterklasse zählen. Dafür gab es eine Urkunde und eine Anstecknadel.

„Ich glaub, ich muss runterspringen“

Seitdem hat sich der sportliche Ehrgeiz allerdings ein ganzes Stück weiterentwickelt – auch dank der gut ausgeklügelten Ausrüstung. Zwölf Meisterwege in einem Jahr? Kann man das auch an einem Tag schaffen? Das ist die Herausforderung für den heutigen Tag.

Kletterer an kolossaler Felswand
In der Falkenstein-Südwand. (Foto: Martin Richter)

Erst Meurerturm Westwand, dann Meurerturm Route Zehn bei fantastischem Elbnebel zum Sonnenaufgang, es folgt Meurerturm Lineal mit 7-Uhr-Glockengeläut aus dem Elbtal – die Jungs sind schnell! Frühstückspause, es gibt selbstgemachtes Müsli, Schinkenbrot und natürlich Kaffee. Schließlich hatte schon Wolfgang Güllich festgestellt: „Kaffeetrinken ist ein integraler Bestandteil des Kletterns.“ Nun werden wir alle etwas munterer und gesprächiger. Es ist 8.17 Uhr, Martin und Rainer sind hochmotiviert. Es wird abgesprochen, den nächsten Weg, Falkenstein Südwand, vorzuziehen, bevor „die Sonne dort zu sehr reinknallt“. Es gab schon vorher einen „Masterplan“ der ausgesuchten Meisterwege, und eine detaillierte Vorstellung, wo in welchem Weg eine Sicherung liegt oder gelegt wird. Zur Südwand heißt es: „[…]… nachholen bis 2. Ring – moralische Wand/Reibung links – Ring….[…]“

Als wir davor stehen, schaue ich mir die Route an, und frage scherzend: „So moralisch sieht das doch gar nicht aus?“ Rainer lacht: „Das siehst du von hier unten nicht. Du erkennst es dann, wenn ich nur so rumsteh …“ Martin Treiber witzelt: „Kletterst du schon, oder stehst du noch?“

Martin steigt ein und holt Rainer nach. Erst geht´s flüssig, dann stockt es kurz. Rainer: „Ich seh grad keine Griffe.“ Martin antwortet: „Also da sind eigentlich viele gute Griffe.“ „Meinst du den einen hier?“ – Wer weiß, was er da in der Hand hat… Viel kann es nicht sein. „Ja!“

Punkt 9 Uhr sitzen beide im Nachholring. Rainer steigt weiter. Dann plötzlich – steht er. Und steht. Er tastet den Fels ab, streckt sich und tastet, tippelt auf der Stelle, und steht. Permanent wischt er sich die Hände an der Hose ab. „Du, Martin!“ ruft er. „Das ist mir zu schwierig!“ Er überlegt und probiert. Runter kann er nicht mehr.  Er probiert es noch einmal. Schließlich ist die Luft raus: „Ich glaub, ich muss runterspringen.“ Zurück zur letzten Sicherung also: Gespannt schaue ich zu, wie er so weit es geht abwärts klettert. Dann springt er sanft und kontrolliert ins Seil.

Wieder sicher am Fels sinnieren beide, wie man diese „moralische“ – sprich nervenaufreibende Passage meistern könnte. Martin: „Da ist der Seitgriff…“ Rainer: „Der rechts?“ „Ja.“ „Den hatte ich.“ „Dann auf die Reibung treten. Da ist nichts. Da musst du einfach hoffen, dass es hält.“ Beide schwitzen. „Bissel Wind wäre gut.“ Rainer nimmt erneut Anlauf. Und diesmal – schafft er es! Jubelschreie von oben. Zwischendrin entfleucht ihm auch ein liebevolles „Ach Martin!“

Zeitenwende 60er-Jahre: Die alte Schwierigkeitsskala reicht nicht mehr

Die Falkenstein Südwand wurde erstbegangen von Lothar Brandler im Jahre 1954. Mein Großonkel Hellmut Tietze war zu dieser Zeit viel im Elbsandsteingebirge klettern, auch mit Lothar Brandler zusammen. Damals, so erzählte er, gab es keine Klettergurte und keine gescheiten Kletterschuhe. Sie waren noch mit Rückeneinbindung und meist barfuß unterwegs. „Und wenn es so kleine Leisten gab, sind wir den Fels fast hinaufgerannt, weil es weh tat an den Füßen.“ Die damaligen Stricke sind mit unseren vergleichsweise dünnen Kernmantel-Seilen nicht vergleichbar. Mein Onkel erzählte auch: „Bei uns ging die Schwierigkeitsskala nur bis VII. Da gab es halt mal eine leichte und eine schwere VII.“ Die Südwand ist heute mit VIIIb eingestuft. Vom Dresdner Bergsporthistoriker Joachim Schindler erfahre ich: „Für den Kletterführer 1961 wurde erstmals eine Unterteilung des Schwierigkeitsgrades VII in a, b und c vorgenommen. Spätestens mit den vielen neuen Wegen von Bernd Arnold zu Beginn der 70er-Jahre merkte man, dass auch dies nicht mehr ausreicht.“ Nach vielen kontroversen Diskussionen wurde zuerst die „VII“ noch um „d“ und „e“ erweitert. Später kamen folgerichtig die Schwierigkeitsgrade VIII und IX mit den Unterteilungen „a“, „b“ und „c“ hinzu. Während also 1961 alle bis dato schweren Meisterwege noch im VIIer Schwierigkeitsgrad waren, wurde ab 1963 regelmäßig die Liste der Meisterwege veröffentlicht – mit kleinen Veränderungen, erklärt Schindler.

Die Meisterwege von 1963. (Repro: Archiv Joachim Schindler)

In der Enzyklopädie Wikipedia finde ich dazu: „Während im Jahr 1957 zum Erreichen der Meisterklasse zehn Wege mit der Schwierigkeit VII (nach sächsischer Skala) im Vorstieg zu begehen waren, mussten dafür im Jahr 1985 bereits 20 Wege der Schwierigkeit IX geklettert werden. Die von den Kletterern eingereichten Begehungen mussten vom Sektionsleiter der Sportgemeinschaft bestätigt werden.“

Das Projekt wird zur Hitzeschlacht

Fotograf Martin Richter und ich laufen zum Ostervorturm, klettern gegenüber davon in einer Scharte etwas hoch, um von dort aus einen besseren Blickwinkel auf den Urbanquergang (VIIIb) zu haben. Es ist 11.05 Uhr. Wir schwitzen mit, als Martin Treiber souverän die erste Schlüsselstelle beim Quergang meistert, staunen über Rainers Eigenhintersicherung, die verhindern soll, dass er bei einem Sturz im Nachstieg rauspendelt, bewundern, wie sie sich immer noch mit scheinbarer Leichtigkeit am Fels bewegen. Dann machen wir uns auf den Weg zum Frühstücksplatz hinauf in die Schrammsteine, um von dort aus einen schönen Blick auf die bevorstehenden Gipfelziele zu haben: Dreifingerturm Südostrisse (VIIIc), Schrammtorwächter Nordwand (VIIIb) und Ostwand (VIIIb).

Kletterer an markanter Felsgruppe in den Schrammsteinen, Sächsische Schweiz
In den Südostrissen am Dreifingerturm. (Foto: Martin Richter)

Es wird Nachmittag, und es ist heiß. Man merkt, wie die Hitze auch den Profis zu schaffen macht. Wir selbst klettern mal auf die Tante, die schwitzigen Hände gleiten am heißen Sandstein nur so ab. Wie muss es erst den beiden da unten am Schrammtorwächter gehen? Noch meistern sie ihre Wege – aber sie werden langsamer.

Wir treffen uns wieder unten, und finden die beiden völlig erschöpft. Lächeln können sie aber noch. Pause, sie brauchen dringend etwas zu essen. Martin Treiber klagt: „Es ist zu heiß. Es geht kaum Wind.“ Wir trinken Kaffee, sie vertilgen ihr restliches Müsli und eine kleine Tüte proteinreiches Beef Jerkey – ein Energieschub zur rechten Zeit.

Zwei Kletterer sitzen vor einem Felsen im Sand, im Vordergrund eine Espressomaschine
Kaffeepause… Die Stimmung ist gut, nur die Hitze macht Rainer Treppte (links) und Martin Treiber zu schaffen. (Foto: Martin Richter)

„Warum macht ihr das? Wie seid ihr auf die Idee gekommen?“ frage ich.

Martin Treiber erzählt von einer Begegnung mit Lutz Zybell und Stephan Gerber am Ostervorturm. Die beiden steckten gerade im Urbanquergang und waren dabei, die Liste der Meisterwege abzuarbeiten – 12 an einem Tag. „Ich war fast ein bisschen neidisch“, sagt Martin. Er liebt solche langen Ausdauerunternehmungen und hat selbst schon mal 12 Meisterwege an einem Tag geschafft. In den Affensteinen – bei kühlerem Wetter. Rainer erinnert sich an ihr erstes Zusammentreffen: „Als ich Martin kennenlernte, trafen wir uns nachmittags 4 Uhr am Meurerturm und kletterten Krämerriss, Westwand, Lineal und Neue Linie. Damit war unsere Begeisterung fürs Aneinanderreihen von Routen geweckt.“

„Wie schaut es jetzt noch mit eurer Motivation aus?“ Rainer grinst breit: „ Schwager Talweg geht noch!“ Martin gibt zu: „ Aber 12 Wege schaffen wir heut nicht. Es ist zu warm.“ Es klingt ein wenig wehmütig.

Kletterer an flaschenförmigem Felsen
An der Nordwand des Schrammtorwächters. (Foto: Martin Richter)

Einer geht noch…

Martin Richter und ich quälen uns erneut den Wildschützensteig hinauf, Richtung Hoher Torstein diesmal, dort lassen wir uns im Schatten nieder. Ein bewaldeter Talkessel trennt uns jetzt von den beiden Kletterern am Schwager. Rainer, diesmal wieder im Vorstieg, ist im Talweg (VIIIc) eingestiegen und meistert den Riss im Überhang ohne Unterstützung. Wie machen die beiden das nur? Es ist ihr neunter Weg an diesem Tag, und wenn sie den geschafft haben, haben sie insgesamt etwa 500 Meter Fels geklettert – Risse, Wände, moralische Reibungen, Kanten, Quergänge, und einiges davon auch etwas überhängend. Es ist heiß, das Essen ist alle, die beiden sind erschöpft, und trotzdem bekommt er den Riss so einfach hin? Schließlich ist Rainer oben und holt Martin nach – es ist 21 Uhr.

Als sie eine Weile später wieder im Basislager am Meurerturm ankommen, ist es fast schon dunkel. Rainer sagt: „Nach dem Schwager geht jetzt nichts mehr. Ich muss morgen heimfahren ins Allgäu und übermorgen arbeiten.“ Neun Wege von zwölf… Ihr Tagesziel haben sie nicht geschafft. Aber davon lassen sich Martin und Rainer nicht entmutigen. Schon bald werden sie wiederkommen und es nochmal versuchen. Sportler eben. Und Meister.

Die Checkliste vom 13. Juli 2020

  1. Meurerturm, Westwand, VIIIb
  2. Meurerturm, Route Zehn, VIIIc; RP IXa
  3. Meurerturm, Lineal, IXa
  4. Falkenstein, Südwand, VIIIb
  5. Ostervorturm, Urbanquergang, VIIIb
  6. Dreifingerturm, Südostrisse, VIIIb; RP VIIIc
  7. Schrammtorwächter, Nordwand, VIIIb
  8. Schrammtorwächter, Ostwand, VIIIb; RP VIIIc
  9. Schwager, Talweg, VIIIc; RP IXa

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