Im Haus der Götter

Ein gewaltiger Tafelberg – so groß, dass der Nationalpark Sächsische Schweiz siebenmal in seinen Grundriss passt. Der Auyan-Tepui. Doch selbst im Kletterhimmel gehen nicht alle Träume sofort in Erfüllung. Über Geduld und Gipfelglück – im tropischen Dauerregen.

Von Bernd Arnold

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, handelt eigentlich von keiner spektakulären Begebenheit – obwohl der Ort, wo sie spielt, schon außergewöhnlich zu nennen ist. Im Grunde geht es um nicht mehr als eine Bauchentscheidung, der ich aber einen der schönsten Gipfelmomente meiner Kletterlaufbahn verdanke: 29. Januar 2012. Immer im Winterhalbjahr lasse ich den Alltag für eine Weile hinter mir, fliehe zu den schönsten Plätzen der Welt – und „tanke“ auf. Schwer zu sagen, was diese Reisen für mich sind: Tourismus oder Abenteuer – Normalität? Besonders genieße ich dabei immer wieder den Moment des Aufbruchs, dieses Sich-Auf-Die-Suche-Begeben – vielleicht ist es das, was mich am meisten auf solchen Reisen reizt. Der Nachtzug bringt mich zum Frankfurter Flughafen. Mein Ziel liegt auf der anderen Seite des Atlantiks: Venezuela mit seinen Tafelbergen – genauer: der Auyan-Tepui. Dankenswerterweise hatte mein Freund Helmut Gargitter (Heli) dafür gesorgt, dass ich mich einer Jugendexpedition des Südtiroler Alpenvereins anschließen konnte.

Tepuis, „Häuser der Götter“, werden diese steinernen Ungetüme von den dort lebenden Pemon-Indianern genannt. Im Süden Venezuelas befinden sich 97 dieser Tafelberge, von denen der Auyan-Tepui mit 2.535 Metern und einer Fläche von etwa 700 Quadratkilometern einer der größten ist. Er erhebt sich bis zu 1000 Meter über den tropischen Regenwald und die Grand Sabana. Das Gestein ist harter paläozoischer Sandstein aus Ablagerungen eines Flachmeeres vor 550 bis 450 Millionen Jahren. Das Gebiet gehörte zum Zentralbereich des großen Südkontinents Gondwana, der vor 180 Millionen Jahren zu zerbrechen und auseinanderdriften begann, um schließlich unsere heutigen Südkontinente zu bilden. Das Gipfelplateau des Auyan-Tepuis ist ein zerklüftetes Felsenlabyrinth mit Canyons, Platten, Türmen und Spalten. Da die Tafelberge weitgehend biologisch isolierte Inseln sind, ist die karge Vegetation meist endemisch. Also zuerst ein Ziel für Biologen und zunehmend auch für Kletterer. Seine Ersteigungsgeschichte ist kurios. 1937 erlitt der amerikanische Buschflieger Jimmie Angel auf dem Hochplateau eine Bruchlandung. Nur durch seine Kenntnisse über vorangegangene Besteigungsversuche wurde eine geeignete Abstiegsroute gefunden. Die erste Besteigung erfolgte dann erst viele Jahre danach, 1956 durch eine wissenschaftliche Expedition.

Alles was wir anpackten war jungfräulicher Fels

Das Ziel unserer Gruppe (12 Teilnehmer / 19 – 27 Jahre und 3 Indianer) waren nicht die großen Wandfluchten am Angel-Fall (vermutlich mit über 900 Metern der höchste Wasserfall der Erde). Vielmehr wollten wir auf dem Plateau, sozusagen am zerklüfteten Gipfelgebirge, aktiv werden. Mögliche Ziele, mit Wandhöhen bis zu 200 Meter, hatte Heli bereits auf einer Kundfahrt mit unserem Freund Ivan Calderon ausgespäht (ein hervorragender Kletterer und Gebietskenner aus Caracas). Ganz blauäugig waren wir also nicht. Die zauberhafte Felskulisse im Ganzen und die vielfältig strukturierte Felsoberfläche im Detail, versprachen uns den „Kletterhimmel“.

Vom 7. – 17. Februar kletterten wir, meist in Zweierseilschaften, an den für uns machbaren und am begehrenswertesten erscheinenden Felsen des Gipfelgebirges. Alles was wir anpackten war jungfräulicher Fels – es gelangen Routen vom Feinsten. Selbst der täglich einsetzende tropische Regen, nach dessen Rhythmus man fast die Uhr hätte stellen können, tat unserem Entdeckerdrang keinen Abbruch. Überhaupt glaubte ich, dass die Regengüsse, im Vergleich zu meinen früheren Erlebnissen in der Region (Roraima -„Treppe zum Himmel“ und  Upuigma -„Das Nest des Adlers“) nicht so ergiebig waren und demzufolge weniger störend wirkten. Aber vielleicht verhinderte unsere Klettereuphorie auch nur die reale Wahrnehmung. Kurz – für jeden Einzelnen in unserer Gruppe gestalteten sich diese Tage zu einem paradiesischen Aufenthalt.

Die Hälfte will runter, der Rest will auf dem Gipfel bleiben

16. Februar 2012. Eigentlich unser letzter Tag auf dem Gipfelplateau. Doch irgendetwas fehlte noch! Oben angekommen waren wir oft, immer mit einer Erstbesteigung. Allerdings, unsere Horizontlinie wurde vom Rand des Plateaus begrenzt. Das ganz große Gipfelgefühl mit dem Weitblick übers Wolkenmeer bis zu den benachbarten Bergen und das alles ins Licht der aufgehenden Sonne getaucht – das war noch offen. Uns fehlte einfach das Stück Romantik, die Großartigkeit innerer Einkehr, welche derartige Ausfahrten erfahrungsgemäß abrunden, dafür wollten, ja mussten wir die letzte Nacht direkt am Gipfel verbringen.

So ein Mist! Beim Auflösen des Lagers im Zentrum der Gipfelfläche regnet es. Dichter Nebel umhüllt uns. Mit Mühe finden wir den Hochpunkt. An Fernblick nicht zu denken. Unser Herzenswunsch, Fernblick mit Morgensonne, schwer vorstellbar. Die Option, dieser Waschküche zu entrinnen und sofort weiter abzusteigen, ist verlockend.  Wofür wird sich die Gruppe jetzt entscheiden? Das Abstimmungsergebnis ist fifty-fifty. Also bleiben wir. Bei den einen, lange Gesichter. Bei den anderen, Hoffnung und sich verbreitende Spannung. Was war geschehen? Die Jüngeren favorisierten den sofortigen Abstieg nach Uruyen. Das warme Bad im Fluss und Essen am Tisch waren endlich greifbar nahe. Die etwas älteren Teilnehmer (Heli, der Chef, und mich als Gast mit einbezogen) sehen, auf Grund von bereits gemachten Erfahrungen die vage Chance, dass sich der romantische Anspruch, den ungünstigen Voraussetzungen zum Trotz, noch erfüllen könnte. Die Nacht, unterm scheinbar schützenden Felsüberhang bzw. im inzwischen durchlässigen Zelt, gestaltet sich dementsprechend feucht. Trotzdem die Hoffnung, dass am Morgen die Sonne scheinen möge.

Freitag, 17. Februar 2012. Es gibt noch Wunder! 7.00 Uhr. Die aufgehende Sonne löst sehr schnell den regenschweren Nebel auf und gibt uns den Blick in die Weite frei. Unsere Wunschvorstellung hat sich zur Wirklichkeit gewandelt. Ja, in dieser Atmosphäre ist Süchtig-sein geradezu legitim und Alkohol eine Bagatelle. Unverständlich, wer sich diesem Gefühl versagen könnte. Wir alle, ob jung oder schon älter, können uns diesem Zauber nicht verschließen.  Freie Wahl für jeden! Jeder kann sein Gefühl ausloten und danach empfinden. Dem romantischen Leitspruch „Nach innen geht der Weg“ ist nichts entgegenzusetzen. Für Empfangsbereite ein weites Feld. Drei Stunden später, der Nebelvorhang schließt sich, endet das zauberhafte Naturschauspiel. Weiter geht’s. Der Abstieg dann wieder, selbstverständlich – im Regen.

Die „Alten“ der Gruppe: v.l. Ivan Calderon, Helmut Gargitter und Bernd Arnold. (Foto: privat)

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