Musik und Klettern haben mehr gemeinsam als man glauben möchte: Ausdruck und Kraft, Form und Seele. Eine Fülle an Stilen und Spielarten. Ein Plädoyer für den Blick über den Tellerrand.
Von Bernd Arnold
Über Monate war die Corona-Pandemie für uns das alles beherrschende Thema. Im Glauben an meine innere Stärke verfolgte auch ich das Geschehen und die Tagesnachrichten lange mit Interesse. Das erschien mir selbstverständlich. Ich wollte die Zusammenhänge verstehen. Allerdings, über die Zeit, nach vielem Auf und Ab der Inzidenzwerte, sich widersprechenden Anweisungen und deren Umsetzung, wurde mir der Zwiespalt zu deren Verstehen immer größer. Selbst das Klettern, die mir angepasste Lebensform, sah ich beeinträchtigt, so dass ich mich in die innere Emigration begab.
Was war geschehen? Die Harmonie, für den Einzelnen, wie für die ganze Gesellschaft, so lebenswichtig, war mir abhandengekommen. Nunmehr, als Suchender, fand ich im Hören und Verstehen-wollen von Musik die notwendige Orientierung. Nicht umsonst ist sie die höchste aller Künste, verbindet uns mit Mikro- und Makrokosmos und ist Ausdruck der Verbundenheit mit allen Dingen.
Musik funktioniert ohne Worte. Sie ist das, in Form und Zusammenhänge bringen von Klängen und appelliert auf unterschiedlichste Weise an unsere Gefühle. In der Summe von Klang, Material und Mensch mit Körper und Psyche kann Musik auch als Auseinandersetzung mit der Natur verstanden werden. Möglicherweise ist sie, wie der Tanz, dem Klettern schon sehr nahe, eine der ältesten rituellen Handlungen der Menschen.
Selbst bei meinem laienhaften Verständnis bemerkte ich beim intensiven Hören von Musik eine verstärkte körperliche Sensibilisierung, Durchlässigkeit und Konzentration. Durch diese individuellen Schwingungen, die unsere Persönlichkeit ausmachen, wird man selbst zum Klang und es fällt einem leichter, sich darauf einzulassen.
Jedenfalls, durch diese Hinwendung, – Musik, mit all ihren Stilrichtungen, wurde mir auch ihre weltumspannende Vielfalt, geprägt von Zeitabschnitten und Epochen, Völkern verschiedenster Kontinente, erstmals richtig bewusst. Allein in der Popularmusik und dem Jazz ergeben sich hunderte Richtungen und tausende Protagonisten. Die Klassik setzte sich zu allen Zeiten mit den vielfältigsten Erscheinungen der Natur auseinander. Begeisternd, dass sich daraus ein Netz der Verwobenheit ergibt. Wichtig für mich dabei, dass sie „Herz“ hat, hör- und spürbar mit Leidenschaft gemacht ist; so wie wir klettern.
Es sind die Missklänge, die schmerzen
Ein Idealbild? – Keinesfalls, denn in der Musik herrscht zwischen den unterschiedlichen Stilen und Strömungen nicht nur Sonnenschein. Konkurrenzdenken und Geringschätzung sind auch hier angesiedelt. Ein Beispiel dafür, die abfällige Äußerung von Jimmy Rabbitte im Musikfilm „Commitments“: Jazz sei verglichen mit Soul nichts weiter als musikalische Selbstbefriedigung.
Beim nächtlichen Hören unterschiedlichster Musikstücke und dem Befassen mit Komponisten und Vortragenden, ging mir doch ein Stück der gewünschten und anfänglich verspürten Harmonie wieder verloren und ich fühlte mich schmerzlich an die Missklänge im Klettersport erinnert. Zumindest konnte ich dabei, zwischen Musik und Klettern, einige Gemeinsamkeiten entdecken. Musik schenkt uns allerdings schon durch das Hören eine Erfahrung, eine universelle Ebene, die alle Menschen miteinander verbindet. Klettern dagegen erscheint eher elitärer gelagert. Trotzdem sind beide Ausdruck von menschlichem Fühlen und Tun, beide verbinden auch verschiedene soziale Formen – vom Duo bis zur großen Mannschaft (Orchester) und der etwas unsozialen Variante des Solos.
Musik wie Klettern muss intensiv geübt werden, denn erst in der Perfektion erlebt man Leichtigkeit. Hans Dülfer (geb, 1892, gefallen 1915 / erfolgreiche Erstbegehungen vor allem im Wilden Kaiser) hat dazu geschrieben, „man müsse sich in ein Stück Fels hineinversetzten wie in eine Partitur, damit man die perfekte Einheit erleben könne.“
Das klingt dann wie Chris Sharma (geb. 1981, amerikanischer Sportkletterer mit schwierigsten Erstbegehungen), „man müsse mit dem Boulder quasi zusammenwachsen, aufeinander zuwachsen.“ Er hat als Sohn von Buddhisten mit der Shakuhachi-Flöte meditiert, deren Harmonien auf den Unter- und Zwischentönen basieren.
Weiter stimmig dabei, die weltweite Verbreitung mit vielsträngigen Wurzeln und sich in zeitversetzten Stationen entwickelnden Stilrichtungen. Stilrichtungen, die sich nicht konträr vernichten, sondern eigentlich ineinandergreifend befördern.
Wahnsinn und Methode – eine Bestandsaufnahme
Dennoch tun sich Widersprüche auf, die nicht in den unterschiedlichen Klängen, jedoch in der persönlichen Komponente unseres Seelenlebens erkennbar werden. Entsprechend unserer Anlagen fühlen wir uns zu einer oder mehreren Stilrichtungen hingezogen. Grund genug, die beim Klettern aktuell praktizierten Stilformen hier, nach meinem Wissensstand, zu erfassen. Die verschiedenen Disziplinen haben fließende Grenzen und Überschneidungen. Die Einteilung suggeriert eine Ordnung, die es so nicht gibt, sondern zeigt uns, dass der „Wahnsinn“ keine Methode hat.
FELSKLETTERN (als Überbegriff)
- ABENTEUERKLETTERN; dazu zählt das Sächsische Felsklettern, auch Mischformen aus Sport- und Tradklettern (AF – alles frei).
- TRADKLETTERN; sämtliche Sicherungen werden während des Kletterns platziert und anschließend wieder entfernt.
- SPORTKLETTERN; nicht unbedingt der Gipfel, sondern die Route gilt als Ziel. Möglichst geringe Verletzungsgefahr durch angepasste Hakenabstände. Verschiedene Begehungsstile: Rotpunkt, Flash, On-Sight, Projekte… (auch an künstlichen Anlagen).
- PLAISIRKLETTERN; lustvolle Spielart / der Begriff fand erstmals durch Jörg von Känel Verwendung.
- SOLOKLETTERN; allein ohne Partner. Unterschiede: Rope-Solo – mit Selbstsicherung und Free-Solo.
- DEEP WATER SOLOING; Schwimmen ist dabei Voraussetzung.
- FELSBOULDERN; unkompliziert – Klettern in Absprunghöhe, meist mit einer Matte als Untergrund. Erster Nachweis: um 1890 an den Felsblöcken von Fontainbleau, eigene Fb-Skala.
ALPINKLETTERN (Überbegriff für große Wände etc.)
Hierbei wiederholen sich schon genannte Begriffe. Durch den Zusatz „Alpin“, der für den Landschaftsraum steht, ergibt sich durch objektive Gefährdung mehr Ernsthaftigkeit.
- ALPINES FELSKLETTERN; Abenteuerklettern unter alpinen Bedingungen.
- ALPINES SPORTKLETTERN; unter alpinen Gegebenheiten.
- EISKLETTERN; Überbegriff, alpiner Raum / Eisflanken. Weitere Betätigungsfelder dabei sind:
- WASSERFALLKLETTERN (Steil-Eis in begrenztem Raum), MIXEDKLETTERN (Eis und Fels mit Geräten),
- DRYTOOLING (quasi Mixed ohne Eis).
EXPEDITIONSBERGSTEIGEN / KLETTERN
Verbunden mit Reisen in schwer zugängliche Gebiete u.a. Höhenbergsteigen.
BIGWALL-KLETTERN
Durchsteigung hoher Granitwände mit einem oder mehreren Biwaks. Entstehungsort: Yosemite Valley. Hierbei ordnen sich auch die Ausübungsformen: TECHNISCHES KLETTERN (Aid-Climbing – Haken, Keile, Friends zur Fortbewegung), SPEEDKLETTERN (Vertikalspeed, in möglichst kurzer Zeit) und ENCHAINEMENTS-KLETTERN (mehrere Routen in ununterbrochener Folge) ein.
HALLENKLETTERN (als Überbegriff)
Klettern an künstlichen Anlagen, ursprünglich Trainingsform, heute verselbstständigt, für manche Nutzer eine Art Fitnessstudio. Hierbei ordnet sich auch das HALLENBOULDERN mit ein. Etwas abwegig, trotzdem dazugehörig BUILDERING (an Gebäuden, Brücken etc.).
KUNSTFORM
„Dance Vertical“ (choreografischer Ausdruck der Bewegung).
WETTBEWERBE
Es war nur eine Frage der Zeit, dass sich aus der Vielzahl von Spielarten auch Wettkampfformen entwickelten. Bei den nächsten olympischen Spielen in Tokio wird Klettern als Dreikampf und 2024 in Paris in Form von zwei Wettbewerben, also um zwei Goldmedaillen, ausgetragen.
- LEAD; Vorstieg mit Seil, erstmals 1989 „Rockmasters“ in Arco (gegenwärtiger UIAA-Grad XII / 8x+/9a)
- SPEED; so schnell es geht (Toprope gesichert).
- BOULDERN; kaum vorstellbare „Kunststücke“.
- COMBINED; Speed, Bouldern und Lead in einer Wertung (Tokio 2021)
- JEDERMANN-WETTKÄMPFE; z.B. Boulder-Bundesliga…
- EISKLETTERN; UIAA-Weltcup
Was uns alle eint
Vieles scheint sich hier sehr ähnlich, aber im Detail doch unterschiedlich und im geistigen Verständnis des Tuns begegnen sich sogar Welten. Alle Aktiven eint zumindest das Bestreben nach oben zu kommen und dabei Schwieriges mit Leichtigkeit zu meistern. Im Idealfall ist der „Gipfel“, die völlige Harmonie, der Zusammenklang aller Töne in unserer Seele. Es gilt, sich dabei auf das persönlich gestaltete Abenteuer, das Geschehen mit ungewissem Ausgang, einzulassen.
Eventuell vorhandene eigene Unkenntnis sollte nicht in Ablehnung gekehrt werden. Der Versuch lohnt sich, den Antrieb von noch Unbekanntem, verstehen zu wollen, zumindest in dessen Nähe zu rücken.
Harmonie ist kein Dauerbrenner, sie muss immer wieder neu erworben werden. Für alle danach Strebenden ist es unausweichlich, dass Nebeneinander, die anderen Klänge, verstehen zu lernen und damit ihre Existenzberechtigung, neben den eigenen, anzuerkennen. Die weltweit tragenden Säulen der Natursportarten Felsklettern, Abenteuerklettern, Sportklettern und Bouldern sind auch bei uns, am Elbsandstein, nicht mehr wegzureden. Wie wir gegenwärtig das Sterben und Wiederauferstehen des Waldes erleben, verhält es sich auch mit unserem sportlichen Tun. Wirklich Gutes wird Bestand haben und Neues wird sich dazugesellen. Klettern, im weitesten Sinne Bergsteigen, ist so vielfältig wie die Berge und Felsen. Heute, ein Massensport und schon immer ein Spiegel der Gesellschaft. Dabei bleibt uns, beim Aufbruch ins Abenteuer unserer Tugenden, das Ziel, Harmonie in all ihren Klangfarben zu erleben, durch menschliche Grabenkämpfe oftmals schwierig, ja fast unerreichbar.
Das Bemühen um Harmonie wird uns zeitlebens beschäftigen…
„Wer ist blind?
Der eine andere Welt
nicht sehen kann.
(Indische Weisheit)
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