Am Gebirge möchte ich nichts zurückdrehen – nur an den Menschen

Frank Richter nimmt mit 76 Jahren allmählich Abschied von der Sächsischen Schweiz und vom Klettern – mit einem letzten Buch. Ein Gipfelgespräch über Lebenswege zwischen Wald und Sandstein.

Ein Sommermorgen im Juli, noch bevor die ersten Frühaufsteher den Wanderparkplatz an der Neumannmühle zuparken. Um diese Zeit, wenn die Sonne die Felsen der Sächsischen Schweiz in ein warmes, klares Licht stellt, ist Frank Richter früher oft mit der Kamera im Elbsandsteingebirge unterwegs gewesen. Die Luft ist kühl und riecht nach Harz – im Großen Zschand sterben die Fichten. Wir stapfen still und gemächlich daran vorbei, hier und da zerknackt an unseren Kletterrucksäcken ein toter Ast. Unser Ziel ist keiner von den hohen und kühnen Felsen, auf die Frank Richter (76) in seinem langen Bergsteigerleben so gerne hinaufgestiegen ist – und denen er mit seinem neuen Buch ein allerletztes Denkmal setzt. Sondern ein Gipfel zu ihren Füßen, zwar groß genug, um im Mittelalter einer Raubritterwarte genügend Platz zu bieten, aber zu klein, um Bergsteigergeschichte zu schreiben. Im „Buch der Gipfel“, das Frank Richter gemeinsam mit seinem Sohn Martin verfasst hat. Die Wartburg ist aus einem anderen Grund für unser Gespräch interessant: Sie ist so etwas wie die Mitte von allem, was Richter und seine Lieblingslandschaft verbindet. Ein kleiner Stein, ganz in der Mitte seines Lebens-Puzzles, zwischen Wald und Fels, Kletter- und Fotozielen, Bergen und Naturschutz, Berufung und Verantwortung. Frank Richter ist Autor mehrerer bekannter Bücher über die Sächsische Schweiz, Kletterer und Landschaftsfotograf. Zudem ein Kunstliebhaber und ausgewiesener Kenner Caspar David Friedrichs und der romantischen Malerei. Und er war früher Nationalparksprecher. Karabiner klimpern, das Seil liegt bereit. Wir werden erst oben über alles reden. Wir klettern den Alten Weg, II.

Die Wartburg: Ein kleiner Felsen mit riesigem Gipfelpanorama. (Foto: Hartmut Landgraf)

Interview: Hartmut Landgraf

Frank, mal ganz grundsätzlich: Warum noch ein Buch über die Sächsische Schweiz? Es gibt doch schon so viele.

Eigentlich wollte ich kein neues Buch mehr übers Klettern machen. Das Thema war für mich erledigt. Aber ein Buch der Gipfel – Diese Idee hatte etwas. Sie versprach zum einen eine schöne Auswahl. Ich konnte mich auf Gipfel konzentrieren, die fürs Klettern bedeutsam sind und teils auch Stoff für mehrere Geschichten bieten. Außerdem war mir wichtig, die Felsen als Teil der Landschaft zu zeigen, nicht nur als Klettergerüst.

Davon zeugt schon das Cover. Ein Kletterbuch, dessen Titel keinen einzigen Kletterer zeigt.

Mir liegt die Landschaft wirklich sehr am Herzen. Sächsisches Bergsteigen war für mich immer beides – Sport und Naturerlebnis.

„Ein Loblied auf die Landschaft und das Klettern“, so in dieser Reihenfolge steht es auf dem Einband – Die Landschaft kommt an erster Stelle. Siehst du das so?

Ja, denn die Landschaft war eher da als der Klettersport. Ich habe das von Anfang an sehr stark empfunden. Schon, als ich auf meinen ersten Gipfel gestiegen bin – auf den Türkenkopf. Wie ich da oben sitze und in die Landschaft gucke, hab ich zu mir selbst gesagt: Hier gehst du nie wieder weg. Dieses Gefühl ist genau das, was wir als Felsenheimat beschreiben. Für mich ist es das Eigentliche, das Tiefe, was das sächsische Bergsteigen ausmacht. Eine meiner Lieblingstouren ist am Nordturm der Neue Talweg, eine VIIa. Einfach großartig diese Höhe. Ganz oben ist ein luftiger Quergang, und wenn du da stehst und zur Festung Königstein rüber guckst – schöner geht´s gar nicht.

Das Buch der Gipfel

Frank und Martin Richter

Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 2020

Ein bilder- und geschichtenreicher Streifzug durch eine faszinierende Felslandschaft, die ihresgleichen sucht und in der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein einzigartiger Kletterstil lebt, an dem sich bis heute wenig verändert hat. Mit seinem neuen Buch setzt Frank Richter beidem ein Denkmal – der Landschaft und dem sächsischen Bergsteigen.

ISBN: 978-3-96717-026-9

Wenn man das Buch durchblättert, bekommt man den Eindruck – du und dein Sohn Martin, ihr portraitiert die Gipfel, nicht die Kletterer.

So ist es.

Ein ungewöhnlicher, fast schon anachronistischer Ansatz in einer Zeit, in der für viele das Zur-Schau-Stellen ihres Könnens oder Egos einen so großen Stellenwert erlangt hat.

Der Gipfel bietet ja auch unheimlich viel. Beispielhaft dafür sind schon Rudolf Fehrmanns poetische Gipfelbeschreibungen im ersten Kletterführer von 1908. Nehmen wir mal den Falkenstein. Als leistungsorientierter Kletterer machst du vielleicht die Direkte Westkante. Und dabei hast du ein Erlebnis, was emotional kaum zu überbieten ist: diese Luftigkeit und Kühnheit – oben die letzten Meter zum Gipfel. Und wenn du dann als Leistungskletterer alt geworden bist, bleibt dir immer noch der Schusterweg. Ein ebenfalls großartiges Erlebnis. Oder schau dir die Gebiete im Vergleich zueinander an. Das Bielatal hat eine völlig andere Dimension und Atmosphäre als zum Beispiel der Große Zschand mit seiner Weite und seinem Ernst. Und ganz zum Schluss laufen wir dann noch mal um unsere Felsen rum und nehmen Abschied von unseren Erlebnissen und Jugenderinnerungen. Auch das ist schön.

Am Alten Weg auf die Wartburg. (Foto: Hartmut Landgraf)

Für dich sind das eine ganze Menge Abschiede, denn dein Leben hatte in vielerlei Hinsicht mit der Sächsischen Schweiz zu tun – beruflich als Naturschützer und Sprecher des Nationalparks, in der Freizeit als Kletterer, als Fotograf oder Kunstkenner. In welcher dieser Beziehungen hast du dich der Landschaft am nächsten gefühlt?

Schwer zu sagen. Angefangen hat alles mit dem Klettern. Als zweites kam die Sicht des Fotografen dazu, was schon eine unglaubliche Erweiterung war. Später hat mich zunehmend  auch die Geschichte der Gegend interessiert. Wie sie besiedelt wurde, ihre Felsenburgen und historischen Orte, alles sehr spannend! Als dann die Einladung kam, für den Nationalpark zu arbeiten, wurde mir wieder eine neue Dimension eröffnet und ich begann, die Sächsische Schweiz mit den Augen des Naturschützers zu betrachten: ihre Tier- und Pflanzenwelt, ihre Biotope und Besonderheiten. Der Schwarzstorch zum Beispiel. Ich finde es faszinierend, wie sich dieser seltene Vogel an unsere Felslandschaft angepasst hat. Einfach grandios. Hinzu kam, dass es plötzlich meine Aufgabe war, anderen die Nationalparkphilosophie nahe zu bringen. Und die ist ja nun wirklich nicht ganz einfach. Wie soll man in einer solchen Landschaft zum Beispiel das Prinzip Natur Natur sein lassen verstehen oder erklären? Natur ohne Menschen geht hier gar nicht. Ich habe überlegt, wie man diese Idee so vermitteln kann, dass die Leute ihren Blick wieder mehr auf die Natur richten.

Mit Worten, die besser zur Landschaft passen?

Mittels Kunst zum Beispiel. Die Möglichkeit dafür ergab sich durch einen glücklichen Zufall. Dietrich Hasse, ein bekannter Bergsteiger und Kunstsammler, der in den 50er-Jahren in den Westen ging, kam auf mich zu, weil er gerne wollte, dass seine grafische Sammlung wieder zurück in die Sächsische Schweiz kommt – unter der Bedingung, dass sie dann hier auch ausgestellt wird. Darum haben wir uns gekümmert. Das Ganze wurde über eine Stiftung beim Umweltministerium angesiedelt und im Schweizerhaus auf der Bastei eingerichtet. Auch Kunst kann einem den Zugang zur Natur verschaffen. Künstler haben ja einen sehr sensiblen Blick. Diese Idee fand ich faszinierend. Ich fing an, mich mit Caspar David Friedrich zu beschäftigen, hab mir Bücher besorgt und bin mit Kopien von seinen Skizzenblättern durch die Sächsische Schweiz gezogen, um die Orte zu finden, an denen sie entstanden. Es kam also bei mir immer eine Phase zur anderen, und die letzte war immer die intensivste.

Ist die Kunst augenblicklich dein wichtigster Zugang zur Sächsischen Schweiz?

Nein. Nach meinem Buch „Vom Erleben der Landschaft“ wollte ich eigentlich damit aufhören. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das kann. Denn es gibt immer irgendein spannendes Thema, das mich reizt und an dem ich arbeite… Bei den Recherchen zum Buch der Gipfel sind mir im Kletterführer einige Ungereimtheiten aufgefallen. Das wollte ich korrigieren. Manche Gipfel hab ich nochmal völlig neu fotografiert und alte Texte darüber gefunden, die ich vorher nicht kannte. Geschichten über Leute, die sich im Gühne-Kamin verfranzt hatten. Oder wie welche hemdsärmelig auf die Wehlnadel steigen und erst oben merken, dass ihr Seil nicht lang genug zum Abseilen ist. Lauter solche Geschichten…

Mit 76 Jahren ist so mancher Weg ein kleiner Abschied. (Foto: Hartmut Landgraf)

Was ist mit der Wartburg? Die kommt in deinem Buch nicht vor.

Ich wollte sie reinnehmen, bin auch hergefahren und hab versucht, sie von der Nordseite aus zu fotografieren. Aber das Bild taugt leider nichts. Trotzdem wird sie im Buch an einer Stelle mal erwähnt, sogar mit einem Foto. Das ist von einem Felsband auf der gegenüberliegenden Seite aufgenommen – von da guckt sie mal so ein Stück über die Bäume. Sogar mit einem Kletterer drauf. Mehr war nicht möglich.

Aber es gibt keine Geschichte dazu. War sie dir als Gipfel nicht wichtig genug?

Nein, obwohl durchaus einige schöne Wege dran sind. Zum Beispiel eine traumhafte Kante, eine IV. Oder die Südrippe, auch ein wunderbarer Weg, den ich gerne gemacht habe. Aber die Wartburg ist eben nicht hoch genug (ca. 15-20 Meter, Anm. d. Red.). Wenn ich mir da gleich gegenüber das Hintere Pechofenhorn mit dem herrlichen Gipfelstürmerweg angucke – das ist eine ganz andere Dimension. Dort bin ich mal mit dem Schweizer Bergführer Paul Nigg geklettert. Und der war so begeistert, dass er unterwegs vor lauter Freude zu singen anfing.

Aber auf der Wartburg bist du mitten zwischen all deinen Bezugspunkten zur Sächsischen Schweiz. Gegenüber die Pechofenhörner – der Bezug zum Klettern. Im Westen die beiden Aussichten am Gleitmannshorn – das Fotografiethema. Wie oft bist du da gewesen?

Nicht sehr oft. Die Stellen, wo alle hingerannt sind, die hab ich gar nicht so sehr gemocht. Spannend war dort drüben für mich eher eine Stelle, von wo man den Heringsstein in seiner Gesamtheit im Bild hat. Von dort hab ich damals Bernd Arnold beim Klettern fotografiert. Da oben geht ein Trampelpfad lang – aber heute ist das alles Kernzone und nicht mehr erlaubt.

Wenn du von hier in die Runde guckst, siehst du heute vor allem sehr viel toten Wald.

Vor drei Jahren hatte ich mir nochmal ein großes Ziel gesteckt: Ich wollte den Großen Zschand – meine Lieblingslandschaft – für eine Art Gegenüberstellung fotografieren, im Vergleich mit Landschaftsbildern aus der Zeit Hermann Krones und Walter Hahns. Dafür bin ich dort unheimlich rumgerannt. Und dabei merkte ich dann, wie das mit dem Borkenkäfer mit einem Mal so richtig losging.

Schmerzliche Bilder: Ein Blick über den Kleinen Zschand. Rechts im Foto der Winterstein. Ungefähr in der Mitte – versteckt zwischen toten Fichten – die Wartburg. (Foto: Hartmut Landgraf)

Was empfindest du, wenn du den Wald sterben siehst? Sterben da nicht auch ein Stück die romantischen Landschaften, die Caspar David Friedrich noch gemalt hat?

Das ist interessant. Friedrich hat die Landschaft anders erlebt als wir. Zu seiner Zeit war der Wald weitgehend abgeholzt. Man hat ja erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts damit begonnen, planmäßig aufzuforsten. So kamen die Fichtenforste ins Elbsandsteingebirge. Und richtig – die Fichte spielt in Friedrichs Bildern eine große Rolle.

Macht dich das traurig?

Sagen wir mal so: Für die Natur ist das nicht tragisch, dass der Wald, den wir kennen, kaputt geht. In 80, 90 Jahren ist hier ein neuer Wald gewachsen. Er wird anders aussehen als heute. Manche Sichtbeziehungen werden verschwinden. Für die Natur ist das kein Problem. Für uns, die wir in der Landschaft leben, ist das schon bitter. Es tut einem in der Seele weh.

Eine Felslandschaft, die ihresgleichen sucht. Blick von Westen in den Kleinen Zschand. (Foto: Hartmut Landgraf)

Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, was würdest du hier wiederhaben wollen?

An der Sächsischen Schweiz selbst möchte ich nichts zurückdrehen. Das ist wie mein eigenes Leben. Man wird älter. Man verändert sich. Genau wie die Landschaft. Und so ist es gut. Wenn es etwas gibt, was ich gerne anders hätte – dann sind das die Menschen. Früher gab es ein ganz anderes Gemeinschaftsgefühl. Da wurde gemeinsam rausgezogen und auf den Gipfeln gesungen. Die Kameradschaft war einfach großartig. Heute ist alles hektisch. Die jungen Kletterer wollen in kürzester Zeit Bestleistungen erreichen. Dabei ist auch ein Stück Ehrlichkeit am Fels verloren gegangen. Da wird sich viel erschlichen und erkrampft. Und diese Kletterhallenmentalität! Manche, die aus der Halle an den Fels kommen, glauben, dass sie´s können und staunen, dass die Verhältnisse draußen ganz andere sind. Dieses gründliche Lernen des Kletterns, wie wir das noch machen mussten. Zuerst Kamine – auch wenn diese Schinderei oft nicht der Brüller war. Oder Risse. Aber das ist eben ein Markenzeichen der Sächsischen Schweiz und wunderbar, wenn man´s bringt. Ja, schade, dass das gelitten hat.

Gibt es für dich in der Sächsischen Schweiz noch so etwas wie einen unerfüllten Traum?

Eigentlich nicht. Es ist eher so, dass ich heute gerne noch einmal an bestimmte Stellen gehe, die mir besonders ans Herz gewachsen sind. Das ist wie ein Stück Abschied nehmen.

Wann nimmst du Abschied vom Falkenstein?

Ich hab schon überlegt, ob ich den Schusterweg nochmal mache. Ich bin mir nicht sicher.

 

1 Kommentar zu Am Gebirge möchte ich nichts zurückdrehen – nur an den Menschen

  1. Sehr ehrliches und interessantes Interview. Danke. Auch der Buchtipp ist gut. Hätte ich fast übersehen. Seine Bücher und Bilder sind schon etwas ganz Besonderes und haben mir schon viel am Fels geholfen. Um meine eigene Fotographie im Elbgebirge zu verbessern, bezgl. der Perspektiven und Fotospots. Danke

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