Im Sarek-Gebirge gibt´s keine markierten Wege. Man darf wandern wie und wo man will. Die ungewöhnlich freizügige Regelung schafft einen Kontrast zum Naturschutz anderswo. Was sie bewirkt, ist eine offene Frage. Eine Begegnung mit Europas ältestem Nationalpark.
Wir sollten für die Tatsache dankbar sein, dass dieses Gebiet so lange unbekannt geblieben ist und keinen Wert für die Branche hatte (Tourismus A. d. Red.). Diesen glücklichen Umstand sollten wir ausnutzen. Der Erhalt der Natur dieser herrlichen Berglandschaft muss daher eine hohe gesellschaftliche Aufgabe sein.
Axel Hamberg, 1922
Ein bedrohtes Paradies – Axel Hambergs Sarek-Führer
Zuerst sind es nur ein paar Pfade. Auf ihnen gelangen die ersten Reisenden ins Gebirge. Doch mit ihnen kommen alsbald die Ansprüche. Dann folgen Straßen und Brücken, Hotels und Eisenbahnen. Und schließlich werden Reklamesprüche an die Felsen gemalt – Ich wäre nicht überrascht, solche Sätze im Programm einer umweltbewegten NGO zu lesen, die sich dem Schutz der letzten unerschlossenen Winkel der Erde verschrieben hat. Niemals aber hätte ich sie in einem 100 Jahre alten Wanderführer des Schwedischen Tourismusverbands vermutet. Dennoch stehen sie da. Geschrieben 1922 in einem Frühwerk der europäischen Reiseliteratur: dem hierzulande wenig bekannten „Sarekfjällen“ von Axel Hamberg.
Hamberg (1863-1933) war ein schwedischer Geograf, Mineraloge und Bergsteiger, der die wilde und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitgehend unerforschte Hochgebirgsregion im äußersten Norden des Landes als Erster systematisch erkundete und beschrieb und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Er beschäftigt sich mit Gletscher- und Gesteinsforschung, studiert die arktische Flora und Fauna, baut Beobachtungshütten in den Bergen, klettert als Erster auf viele der bis dahin unbestiegenen Gipfel, zeichnet die erste verlässliche Karte der Region und verfasst 1922 schließlich im Auftrag des Schwedischen Tourismusverbands den besagten ersten Wanderführer.
Elbsandstein-Touren | Reisereportagen
Als ich darin seine kritischen Sätze zum Tourismus las, musste ich mir die Augen reiben. Es dürfte Hambergs Verlegern nicht gefallen haben, sie zu publizieren – seinerzeit steckt der Fremdenverkehr in Lappland noch in den Anfängen. Es gibt Ideen und ein wirtschaftliches Interesse, ihn zu beleben. Hamberg will wohl auch eher vor den Folgen einer ungebremsten und unkontrollierten Erschließung warnen, nicht vor touristischer Nutzung per se. So schreibt er an anderer Stelle: „Es wäre ein Missmanagement unserer natürlichen ästhetischen und wissenschaftlichen Ressourcen, die Menschen daran zu hindern, dorthin zu gelangen“. Immerhin: Schon 1922 ist er sich der Ambivalenz dieses Themas bewusst.
Es ist, als habe Hamberg vorhergesehen, was bei mir daheim im Elbsandsteingebirge aktuell für Diskussionen sorgt: Menschenmassen, Trittschäden, Lärm und Müll, Parkplatzprobleme und ein fehlgeleiteter Abenteuer-Zeitgeist, der in gedankenloser Weise nach immer neuen Erlebnisräumen und Möglichkeiten der Selbstinszenierung sucht. Belastungen, die der Landschaft aus ihrem touristischen Freizeit- und Marktwert erwachsen. Die Anfänge, vor denen der Schwede im Sarek warnt, liegen im Elbsandsteingebirge 250 Jahre zurück.
Der Sarek ist eine der faszinierendsten Berglandschaften der Welt. Eine subpolare Wildnis so groß wie Stockholm, Berlin und New York zusammengenommen – 2000 Quadratkilometer – aus vergletscherten Bergketten, wegloser Tundra, Birkenwäldern und Sümpfen. 1909 stimmt der schwedische Reichstag für ein Gesetz, das den Sarek und acht kleinere Wildnisgebiete im Land nach amerikanischem Vorbild als Nationalpark unter Schutz stellt. Es sind die ersten Nationalparks in Europa. Im Sarek darf man wandern wo und wie man will. Allerdings wurde von Anfang an darauf verzichtet, Wege zu sichern und begehbar zu halten. Bis heute gibt´s im gesamten Gebirge keine Markierungen, Wegweiser, Treppen, Geländer oder Stege, die einem das Vorwärtskommen erleichtern würden. Keine Touristenbauden. Kein Funknetz. Gar nichts. Man muss darauf vorbereitet sein, tagelang autark aus dem Rucksack zu leben, sich in unwegsamem Gelände unter teils schwierigsten Wetterbedingungen mit Karte und Kompass zurechtzufinden, sich selbstständig einen Weg durch Flüsse und Sümpfe, Unterholz und Geröllfelder zu bahnen. Und verstehen, dass man im Notfall mehrere Tage bis zur nächsten Straße oder Siedlung brauchen wird. Mit anderen Worten: Der Sarek ist nichts für den Ottonormalurlaub. Die Natur selbst regelt den Besucherverkehr. Bislang zumindest.
Genau deswegen wollen wir im Sommer 2021 dorthin. Wir wollen wissen, was es bedeutet. Für uns selbst – und für die Natur. Das wirft ein paar unbequeme Fragen auf: Machen wir uns damit nicht zu Komplizen einer Entwicklung, die dazu führt, dass überall auf dem Globus die letzten schönen und wilden Ecken gefunden und überrannt werden? Sind die Kosten solcher Reisen am Ende zu hoch? Für uns alle? Oder liegt darin auch eine Chance? Der amerikanische Wanderpapst und Nationalparkgründer John Muir sah im Tourismus „das kleinere Übel“ und erhoffte sich von seiner behutsamen Förderung mehr gesellschaftliches Bewusstsein für die Natur. Was also wird uns dieses Abenteuer bringen? Oder nehmen?
Schlechtes Wetter ist gut für den Kopf
Jemen, Mexiko – Westsahara! Es sind nicht gerade die naheliegenden Länder der Welt, die mir als Erstes einfallen. Aber es sind die trockensten. Seit zwei Tagen regnet es im Sarek ununterbrochen. Der Himmel über der Fjällstation Aktse hängt so tief, dass die bleigrauen Wolken fast unser Zeltdach berühren. Draußen dampfen die Sumpfgraswiesen wie frisch eingelassene Badezuber. Drinnen staut sich die Nässe in allen Ecken. Wir sind auf unserer kleinen Schlafsackinsel eng zusammengerückt und versuchen die Zeit totzuschlagen, indem wir die Weltkarte durchbuchstabieren: Stadt-Land-Fluss. Solange der Zettelvorrat reicht.
Das Gebiet an der norwegischen Grenze gehört zu den regenreichsten in Schweden. Und das gilt fürs ganze Jahr. Nur im Juli sei im Sarek mal auf ähnlich klares Wetter wie in Stockholm zu hoffen, schreibt Axel Hamberg. „In den anderen Monaten sind die Aussichten diesbezüglich jedoch schlechter.“ Das merken wir. Wir haben August.
Unsere triefenden Rucksäcke stehen zum Trocknen im Geräteschuppen der Station, inmitten von Werkzeugkisten, Benzinkanistern und alten Hobelbänken voller Angelzeug. Dieser Platz war das einzige Stückchen Komfort, das wir für stolze 100 Euro Zeltgebühr (pro Nacht für 3 Personen) ergattern konnten. Ansonsten ist nur das vier Quadratmeter große Wiesenstück im Preis enthalten, wo unser Zelt steht. Und ein Plumpsklo, dessen Geruch noch nach Stunden an den Sachen klebt wie Sirup an verfilzter Wolle.
Aktse ist einer von vier möglichen Startpunkten in den Nationalpark. Die Station liegt am Ausgang des gewaltigen Rapadalen, das den zentralen Teil des Gebirges in zwei annähernd gleichgroße Hälften zerschneidet. Hier führt auch der berühmte Kungsleden vorbei, auf dem im Sommer Langstreckenwanderer aus aller Herren Länder von Saltoluokta oder Kvikkjokk zur Fjällstation gelangen – wo sich ihre Wege trennen. Wer tiefer hinein in den Sarek will, für den geht´s ab hier auf unsicheren Trampelpfaden weiter. Oder querfeldein. Aktse ist zugleich die letzte Chance, sich für die Tour mit ein paar Bedarfsgütern einzudecken: Schokolade. Batterien. Klopapier. Für die Traverse auf die andere Seite der Berge hatte ich anfangs fünf bis sechs Tage kalkuliert. Nun sitzen wir schon zwei Tage am Zwischenstopp fest und müssen zuschauen, wie der Regen all unsere Habseligkeiten und Zeitpläne aufweicht. Wir sind nicht die Einzigen, denen es so geht. Am zweiten Nachmittag lichtet sich der Platz vor der Station zusehends – immer mehr frustrierte Trekker brechen ihre Zelte ab. Wir harren noch aus.
Es gibt Geschichten darüber, wie die Einheimischen mit solchen Wetterwidrigkeiten umgehen: die Sámi, Lapplands Urbevölkerung, die seit Tausenden von Jahren in der rauen Natur Nordskandinaviens zu Hause sind. Wenn die Sámi früher mit ihren Rentierherden durch die Berge zogen, hinterließen sie auf manchen Gipfeln kleine Geschenke für die Windgeister, die „Bieggolmmáis“. Und sie verstanden sich auf die Kunst, Stürme zu fangen und in Seile zu knoten, um sie zu bändigen. – In dem Bild steckt ein starker Gedanke: die Ver-Bindung mit der Natur. Mit all ihren Stimmungswechseln, wilden Launen und Regentagen. Das ist es, was wir hier suchen. Am nächsten Tag brechen wir auf.
„Bei der Rückkehr ins Camp nach einem anstrengenden Tag ist ein wenig Cognac eine schöne Sache – aber keineswegs eine notwendige.“
Axel Hamberg, 1922
Was wir nicht haben, brauchen wir nicht
Ein Rückblick: In der finnischen Tundra – auf einem Biwakplatz irgendwo zwischen dem 68. und 69. Breitengrad – landete vor einigen Jahren eine nagelneue Lederhose im Müll. In voller Absicht. Meine Lederhose. Über ihr weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt. Vielleicht fand sie einen neuen Besitzer. Oder jemand fischte sie aus dem Abfall, um sie im Süden des Landes ordnungsgemäß in einem Kleidercontainer zu entsorgen. Höchstwahrscheinlich wurde ihr der unkonventionelle Komposthaufen aus benutzten Zellstofftaschentüchern, leeren Konservendosen, Teebeuteln und Essenresten aber zur letzten Ruhestätte.
Mich erinnert diese Geschichte immer daran, dass beim Rucksackpacken nicht alles optimal läuft. Man kann über den Nutzen einer Lederhose 300 Kilometer nördlich vom Polarkreis natürlich geteilter Meinung sein. Wer die Tundra schon mal im Juni erlebt hat – mit ihren Myriaden von Mücken – wird es verstehen. Mücken haben gegen millimeterdickes Rindsleder einfach keine Chance. Wenn es freilich im niederschlagsarmen Nordfinnland mal regnet, wird so eine Lederhose schnell ziemlich unpraktisch. Bis sie getrocknet ist, bricht die nächste Eiszeit an. Und derweil ist sie vor allem eines: zu schwer für eine Trekkingtour. Beim Packen muss man an solche Dinge denken – sie vorhersehen. Idealerweise ist die Kraxe dann am Ende nicht schwerer als 25 Kilo, gut in Form und mit allem Nötigen ausgestattet.
Zu Hambergs Zeiten schlicht ein Ding der Unmöglichkeit! In den 1920er-Jahren konnte alleine schon ein Schlafsack (aus Filz!) 10 Kilo auf die Waage bringen. Ganz zu schweigen vom Zelt oder der Proviantliste: Für eine siebentägige Bergtour etwa empfiehlt der Schwede so gewichtige Sachen wie Hartbrot, Zucker, Schinken, Dosenerbsen, Butter und Corned Beef einzuplanen. Eine Wanderung durch den Sarek sei keine Kleinigkeit, sondern eine Expedition, was entsprechende Ausrüstung und Lebensmittelvorräte voraussetze. Für den Transport über die Berge rät Hamberg folglich dazu, ein paar Träger und Rentiere zu mieten.
Heute ist das anders: Dank Kunstfaserschlafsack, Funktionskleidung und gefriergetrockneter Trekkingnahrung kann man eine Sarektour auch ohne Rentier-Karawane unternehmen. Aber 25 Kilo kommen trotzdem schnell zusammen. Jedes Gramm darüber hinaus kann den Erfolg der Tour gefährden. Und diesmal haben wir uns verrechnet: Unsere Kraxen sind zu schwer! Glücklicherweise kommt uns diese Einsicht schon gleich auf den ersten Wanderkilometern vom Parkplatz nach Aktse – und nicht erst tief drinnen im Sarek. Von Kvikkjokk, unserem Ausgangspunkt, sind es auf dem vergleichsweise zahmen Kungsleden zwei bis drei Tage bis zur Fjällstation. Und schon am Tag Eins stehen wir zuletzt müde und schief wie Wackeltürme in der Wildnis und wissen: Wenn wir das schaffen wollen, müssen wir Gepäck loswerden! Tags darauf, nach einer gnadenlosen Rucksackinventur, mache ich mich reumütig mit dem Bündel aussortierter Habseligkeiten auf den Rückweg zum Auto: zwei Dutzend Marsriegel, ein Beutel Instantkaffee, 30 Meter Reepschnur, unsere einzige Tafel Milchschokolade, ein paar Reserve-Zeltheringe, eines unserer beiden GPS-Geräte, der Ersatzkocher – und unser zweites Zelt. Wir werden uns notgedrungen zwei Wochen lang zu Dritt in ein Zweipersonenzelt quetschen. Einfacher denken. Wünsche zurückstellen. Härten akzeptieren. Das alles sind fundamentale Trekking-Lektionen. Und man lernt sie immer wieder aufs Neue.
Irrwege sind leichter zu finden
Es geht auch ohne Knotentricks: Die Windgeister sind auf unserer Seite! Als wir nach zwei langen Regentagen endlich zum Skierfe aufbrechen können, sind sie auf allen Berghöhen ringsherum emsig beschäftigt uns den Weg – sprich den Himmel frei zu fegen. Denn am Boden gibt´s nun keinen Weg mehr. Schon kurz nachdem wir den Kungsleden verlassen haben, geht das Wildniswandern richtig los: Morast! Mit einem Mal ist da nichts mehr außer kniehohem Birkengestrüpp, Moosmatten und Weidenröschen. Und jene verlockend schönen Sumpfgrasflecken, wo man mit schweren Bergstiefeln im Nu bis zum Mittelpunkt der Erde einsinkt. Eine neue Erfahrung, an die wir uns erst gewöhnen müssen.
Keine 100 Meter weiter ist der Weg ganz plötzlich wieder da, als habe er nur mal eben kurz in die Büsche gemusst. Diese Lücken werden im Laufe der nächsten zwei Tage immer größer. Bis wir am Ende nicht mehr genau wissen, ob wir noch einer Spur oder bloß unserer Einbildung folgen. Kompass und Karte wechseln vom Rucksack schon bald in die Kameratasche, damit ich sie schneller zur Hand habe. Unterdessen geht es höher und höher hinauf in die Berge. Am Nachmittag bricht endlich auch die Sonne durch die Wolken und beschert uns einen sagenhaften Gipfelblick vom Skierfe hinunter ins smaragdgrüne Rapadalen, wo der Rapaädno in einem lieblichen Durcheinander aus perlweißen Armen, Schleifen und Bögen zum Láitaure hin mäandriert. Rechts und links davon erheben sich bis zu 600 Meter hohe Steilwände, finster und mächtig wie die Felsenburgen von Jotunheim.
Ein Stück unterhalb vom Skierfe schlagen wir auf einer Bergwiese nahe der Talkante unser Lager auf. Um uns herum und weit über die Hochebene verstreut leuchten schon ein paar andere Kuppelzelte farbenfroh in der Abendsonne – alleine sind wir hier nicht. Auch später, im zentralen Teil des Gebirges, werden uns hin und wieder Wanderer begegnen. Seit Corona habe die Zahl der Besucher im Sarek spürbar zugenommen, erfahre ich später von einem Hüttenwirt, der eine der Fjällstationen außerhalb des Nationalparks betreibt. Wir treffen Deutsche, Briten und Italiener. Zudem verreisen auch mehr Schweden im eigenen Land. Und noch ein Trend wird spürbar: Social Media! Obwohl schwer zugänglich, sorgt die Landschaft mit ihren atemberaubenden Bergpanoramen inzwischen für Bilderfluten auf Instagram & Co. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Natur. Drohnenverbote werden missachtet. Die Zahl der Trampelpfade im Gebirge nimmt zu. Im Umkreis einiger Lagerplätze hat die Vegetation bereits sichtlich gelitten. Noch hält sich die Gebietsverwaltung in Jokkmokk mit Äußerungen zu den Auswirkungen zurück. Die Besucherströme hätten sich in den letzten Jahren etwas „verschoben“, sagte ein Nationalparksprecher lediglich – ohne Zahlen zu nennen. Auf Nachfrage fügte er hinzu, es sei ein „Segen für die Natur“, dass dieses Gebiet so abgelegen sei. Offenbar hat man Sorge, Diskussionen könnten das Interesse noch zusätzlich schüren.
Am Skierfe beobachten wir, wie eine Gruppe von Trekkingfreunden oben in den Bergen mitten im kniehohen Birkengestrüpp ein Lagerfeuer entfacht. Das ist im Nationalpark nur im Ausnahmefall erlaubt – etwa zum Sachentrocknen – und nur an sicherer Stelle. In der Nacht bekomme ich zunächst kein Auge zu, weil sich in einem der Zelte über uns jemand von seinem Handy berieseln lässt – alles, was die Playlist hergibt. Der dünne Fistelton zittert Stunde um Stunde über der Tundra. „Hotel California…“ Die EAGLES – im Sarek! Warum man hier draußen irgendetwas anderes als den Nachtwind hören will, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. „…such a lovely place….“, wimmert es zu uns herunter. So ein wunderschöner Ort.
Es sieht so aus, als müssten wir nur der Talkante folgen, um in den Sattel zwischen dem 1200 Meter hohen Suorkitjahkka und dem etwas kleineren Ridok zu gelangen. Zumindest auf der Karte. Die Wirklichkeit hingegen ist dreidimensional – und daher komplizierter. Schnell wird klar, dass Höhenlinien arg täuschen können und dass der scheinbar bequemere Weg im Sarek nicht immer auch der beste ist. So kommt es, dass wir uns am nächsten Tag nach ein paar geradlinigen Wanderkilometern plötzlich im gefährlichen Steilgelände wiederfinden. Wir haben unser Ziel schon vor Augen, kommen aber keinen Schritt weiter. Der Pfad – bis hierhin gut ausgetreten – hört abrupt auf. Wir sind in einer Sackgasse gelandet. Das erklärt die Tiefe der Spuren: Alle, die auf diesen Weg hereinfallen, müssen ihn zweimal gehen.
Bären haben es nicht eilig
Laufen. Essen. Schlafen. Tagelang. Unter unseren Füßen zieht die Welt dahin. Und über unseren Köpfen der Himmel. Wir sind wie Koordinaten im weiten Raum – drei winzige Punkte in der Landschaft, die sich allmählich nach Nordwesten bewegen. Ohne es zu merken, ergeben wir uns der Majestät der Berge, treten in ihren Schatten, werden in ihrer Gegenwart zu Staub, verwachsen mit dem Gras an ihren Hängen, sind klein und unbedeutend vor ihrer Gewalt und Herrlichkeit. Wir fühlen uns – frei! Inmitten von offenen Horizonten einfach nur zu sein. Wie „Kinder des Windes“. So nennen sich die Sámi.
Es ist eine Erfahrung, die man nicht geschenkt bekommt. Sie kostet etwas. Man bezahlt sie mit Knieschmerzen und Blessuren, viel Schweiß und Mühe, manchmal mit Hunger und Durst, kalten Füßen und nassen Kleidern. Aber das lohnt sich. Wir lernen hier so viel! Auch wenn es oftmals nur Kleinigkeiten sind. Jeder Bach hat seinen eigenen Geschmack. Jeder Stein seinen Glanz. Jede Wolke ihre Geschichte. Wir genießen das Licht, das die Berghänge am Abend zum Leuchten bringt – und die kristallklare Luft. Morgens, bevor wir aufbrechen, sitzen wir manchmal noch eine Weile vorm Zelt und lassen einfach nur die Stille in uns hineinfließen.
Die jedoch trügt: Denn im Sarek ist es tierisch lebendig! Die bewaldeten Talgründe des Rapaselet gelten als das wildreichste Gebiet in Schweden. Schon Axel Hamberg hebt das hervor. Vielfraß, Elch und Luchs halten sich häufig hier auf. Mit etwas Glück kann man in den Bergen Steinadler, Merline und Gerfalken beobachten. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird man zumindest einem Tier begegnen. Fast täglich und in ganzen Herden kreuzen sie unseren Weg – Rentiere – ohne jede Scheu, manchmal regelrecht zutraulich und oft nahe genug für ein Foto. Und schließlich, am dritten Tag unserer Wanderung, keine 300 Meter entfernt, an einer Bergflanke unterhalb vom Stuor Skoarkki bekommen wir ihn tatsächlich zu Gesicht: einen ausgewachsenen Braunbären! Seelenruhig und unbeeindruckt von uns trollt er sich allmählich den Hang hinauf – den massigen Schädel mal witternd erhoben, mal tief in den Heidelbeeren. Er hat es nicht eilig. Wir ebenfalls nicht.
Am Abend stoßen wir im Unterholz am Fuß des 1540 Meter hohen Låddebákte auf ein historisches Relikt: die Berghütte Skoarkistugan – eine der fünf Forschungshütten, die Axel Hamberg seinerzeit im Sarek baute. Ein rostrotes Ding aus verzinkten Eisenblechen, schlicht und praktisch wie eine Konservendose. Sie ist verriegelt und verrammelt. Den Schlüssel hat die Gebietsverwaltung in Jokkmokk. Zum Weiterwandern ist es zu spät. Wir müssen unser Lager nebenan im Birkendickicht aufschlagen. Beim näheren Hinsehen fällt mir auf, dass etlichen Bäumen rings um den Stamm ein Streifen Rinde fehlt, wie mit Messern frisch abgeschält. In der Forstwirtschaft spricht man vom „Ringeln“ – ein gängiges Verfahren, um unerwünschte Bäume gezielt zum Absterben zu bringen, ohne sie zu fällen. Auf diese Weise wird nur ihr Saftstrom unterbrochen, der Baum geht daran zugrunde, bleibt aber als Totholz stehen. Im Sarek hat die Ringelei freilich nichts mit Forstwirtschaft zu tun: Birkenrinde eignet sich hervorragend als Zunder, sogar im nassen Zustand. Direkt neben der Hamberg-Hütte wurden ein paar Stämme um eine provisorische Feuerstelle gelegt. Der Verdacht liegt nahe, dass die Rinde dort hineingewandert ist – ganz wahllos von toten und lebenden Bäumen.
Der Übergang in die neue Zeit bringt Millionen von Menschen Glück und Wohlstand und zeigt das wahre Ausmaß der Entwicklung eines Landes… Aber gleichzeitig herrscht ein melancholisches Gefühl, dass zukünftige Generationen kaum in der Lage sein werden, sich vorzustellen, wie das Land ihrer Väter ausgesehen hat.
Adolf Erik Nordenskiöld, 1880
Freiheit ist ein schmaler Grat
Eine knappe Woche nach dem Start von Aktse holt uns der Regen ein. Am Gavelberget, der uns mit seinen wolkenverhangenen Gletschern den Weg aus dem Ruohtesvágge hinaus nach Westen zeigt, fängt es heftig an zu schütten. Binnen Stunden verwandelt sich das Tal in einen schmatzenden, glucksenden Trog voll Sumpf und Matsch. Als hätten die Sarek-Geister beschlossen, dass nach fünf sonnensatten Tagen Schluss sein muss mit den Freundlichkeiten. Die kalte Nässe ist bald überall: in den Schuhen, unter der Kapuze, im Kragen, in den Ärmeln. Sie steigt an uns empor wie eine Wasserstandsmarke, färbt unsere Hosenbeine dunkel und dringt durch die Nähte bis in alle Knochen. Unser wirksamster Schutz dagegen sind zwei kleine Tuben Bienenwachs, womit wir allmorgendlich unsere Bergschuhe präparieren.
Wir kommen nur noch langsam voran. Einmal wandern wir erst um die Mittagszeit los, als sich am Himmel endlich ein paar hellgraue Stellen zeigen. Doch der Schein trügt – denn es gießt weiter. Vier Stunden später werfen wir an der Schutzhütte Renvaktarstuga entnervt das Handtuch. Die kleine Holzhütte ist leer und verfallen und sieht kaum einladender als das Wetter aus. Außen davor: ein überquellender Müllcontainer, der augenscheinlich zuletzt von Axel Hamberg geleert wurde. Auch die Haustür wurde vermutlich schon vor Jahren verheizt. Wind und Feuchtigkeit konnten ungehindert in den Innenraum gelangen – drinnen ist alles verrottet und zugemüllt. Generationen von Trekkern haben hier ihre leeren Provianttüten, Konserven, Papier und sonstige Hinterlassenschaften achtlos unter die Schlafbänke gestopft. Es sieht nicht aus, als wären es nur ein paar rücksichtslose Einzelne gewesen, hier wurde ganz offensichtlich das Prinzip Ich zur bequemen Gewohnheit. Bis zur nächsten Fjällstation hätten die Verursacher ihren Müll sonst nämlich noch zwei Tage länger schleppen müssen.
Freiheit ist ein schmaler Grat. Auch das können wir hier im Sarek lernen. Direkt daneben tun sich oftmals Abgründe auf. Manchmal sind es Leute wie wir, die sich bereitwillig eine Monsterkraxe aufsetzen, um nur ein Stück raus aus der Enge ihres Alltags zu kommen. Doch kaum haben sie etwas Raum gewonnen, tun sie, als wären sie darin alleine. Und so mancher vermeintliche Naturliebhaber entpuppt sich gleich hinter der ersten Birke als echter Abenteuer-Proll. Als ob der Anblick unberührter, wilder Landschaften auch etwas unbeherrscht Wildes und rücksichtslos Besitzergreifendes in uns selbst zum Vorschein bringt. Etwas, das auf der Welt schon so manchen grünen Flecken Erde in eine ausgeplünderte Wüste verwandelt hat. Als einer der Ersten warnte 1880 der schwedische Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld vor den Folgen dieser Geisteshaltung gegenüber der Natur und ihres ungebremsten Verbrauchs: Künftige Generationen, schrieb Nordenskiöld, würden sich kaum noch vorstellen können, wie das Land ihrer Väter aussah.
Die meisten Menschen sind AUF der Welt, nicht in ihr… Sie berühren etwas, bleiben aber separat.
John Muir, 1890
Unser Platz in der Natur – Ein Fazit
Noch sind die Spuren überschaubar – gemessen an der Größe des Gebiets. Die meisten Wanderer sind in den zentralen Gebirgstälern unterwegs, abseits davon ist der Sarek noch um Einiges wilder und stellenweise bis heute wirklich unberührt. Und spätestens, wenn hier Anfang Oktober der erste Schnee fällt und die arktische Landschaft in eisigem Schweigen erstarrt, holt sich die Wildnis viel von dem zurück, was ihr im Sommer zuweilen an Frieden und Einsamkeit verloren geht.
Dennoch war es offenkundig klug und vorausschauend von den Nationalparkgründern, im Sarek zum Schutz der Natur von Anfang an auf Wegmarkierungen und ähnliche Erschließungsmaßnahmen zu verzichten. Was ein gelenkter Trekkingbetrieb bedeuten und nach sich ziehen kann, lässt sich heute ganz gut auf dem angrenzenden Kungsleden beobachten: eine Langstrecken-Route von internationalem Rang und Renommee, die jedes Jahr mehrere Zehntausend Wanderer in die Spur lockt. Die Folgen sind u.a. überfüllte Hütten und Biwakplätze, Touristen, die sich etappenweise mit dem Helikopter ins Gebirge fliegen lassen, Müllprobleme, Lagerfeuerstellen und Wildcamper alle paar Kilometer.
Wo keine markierten Wege sind, gibt´s außer der herrlichen Landschaft nicht viel, was einen zum Loswandern überhaupt erst ver-leiten könnte: nur Erfahrung, Vernunft und Vertrauen. Ganz zwangsläufig übernimmt der Verstand die Führung – zumindest um Gelände, Kompass und Karte zu lesen, weil man sonst allenthalben in die Irre läuft. Wer das nicht will oder kann, bleibt fern. Die Wildnis selbst begrenzt den Andrang aufs Gebirge. Schlimmstenfalls kann diese Art Barriere dazu führen, dass man die Orientierung verliert oder die Fehler jener wiederholt, die vorausgegangen sind. Bestenfalls schafft sie ganz nebenbei auch ein bisschen Ordnung im Kopf, hilft Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, schärft ganz allgemein den Blick für die Natur – und den eigenen Platz darin. Und darin liegt eine große Chance!
Wo unser Platz ist, erfahren wir am zehnten Wandertag – vier Tage vor Ende der Tour: Nach einer fünfstündigen Bergetappe über Geröllhänge und durch endloses Birkengestrüpp machen wir am Abend erschöpft und zerschlagen auf einer grasbewachsenen Klippe über dem Ruohtesvágge Halt. Und dort finden wir sie: die Königsloge des Sarek! Wie ein gewaltiges Freilufttheater liegt das Tal, eingeschlossen von finsteren Gebirgsrängen, zu unseren Füßen im warmen Abendlicht. Fernab im Westen, zwischen den schneeumkränzten Gipfeln des Sarektjåhkkå und Skárjátjåhkkå braut sich giftgelb ein Gewitter zusammen. Links von uns im Angesicht des drohend violetten Gewölks – und wie um seine Unschuld zu beteuern – leuchtet in hauchzarter Pracht und Stille ein einsames Regenband. Darunter hindurch windet sich in goldenen Mäandern wie ein glitzernder Lindwurm der Oberlauf des Rapaädno. Es ist atemberaubend schön! Wir staunen wie Kinder und bringen Stunden damit zu, einfach nur hinzuschauen. Noch lange werden wir diese Bilder in unseren Träumen und Erinnerungen genießen. Und uns tief im Herzen wünschen, dass es dort bleibt, wie es ist.
Hallo, mit großem Vergnügen den Bericht über Sarek/Rapadalen gelesen! Ich war dort 1967 (damals 23-jährig) zusammen mit einer Freundin. Batterien benötigten wir damals nicht. Angeregt durch den Bericht von Alfred Andersch Das Rapatal in dem Buch „Wanderungen im Norden“. Wir waren damals vollkommen allein. Herzlichen Gruß, Martin Roedder