Im Bann der Tundra

Die Kältesteppe im Norden Finnlands ist eine der letzten unberührten Landschaften der Erde. Im Herbst zeigt sie sich in seltener Schönheit – und öffnet ein Fenster ins eiszeitliche Europa.

Die Steinzeitjäger der Dryasepoche müssen mit ihren Fellsäcken und Speeren ganz ähnlich ausgesehen haben, als sie vor 10.000 Jahren in kleinen Gruppen nordwärts zogen – getrieben von Kälte und Hunger – immer den Rentierherden und dem zurückweichenden Eis hinterher. Weite Teile Europas sind damals so einsam und öde wie der Mond. Im Süden reicht die Tundra bis nach Mähren und Ungarn, im Norden bis an den Rand der Gletscher. Schnee- und Regenschauer fegen übers Land, die Tage sind nass und grau, nur selten scheint die Sonne. Die Temperaturen klettern kaum über 4° Celsius. Nachts fallen sie tief unter Null.


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So wie hier und heute: Ein grauer Tag, ungemütlicher Wind. Von Ferne schaut die Sonne wie eine Fremde ins weite Land. Die Luft riecht nach Winter. Es ist September in der Tundra. Zeit, sie zu verlassen. Bald wird hier alles vor Kälte erstarren. Noch aber regt sich Leben. Ein Stück des Horizonts gerät in Bewegung. Wie aus dem Nichts tauchen dort drei schemenhafte Gestalten auf. Winzig und zielstrebig wie Ameisen kommen sie über die weite Ebene daher, werden langsam deutlicher und größer. Werden zu Menschen, zu Wanderern. Drei einsame Leute, schwer beladen mit Säcken und Bündeln, gegen das Gewicht und den eisigen Wind weit nach vorne gelehnt, die Mützen tief im Gesicht, Stöcke in den Fäusten – meine Familie.

Sieben Tage sind wir bereits unterwegs, als zum ersten Mal der Himmel aufreißt, die Wolken widerwillig beiseite rücken und endlich etwas Licht in die Landschaft lassen. Denn wegen des Lichts sind wir hergekommen. Normalerweise leuchtet die Paistunturi im September in allen Farben. „Ruska“ heißt das einzigartige Naturschauspiel, das die Sonne jedes Jahr mit ihrer letzten Kraft inszeniert. Aber was ist schon normal in der Arktis. Die Kältesteppe im Norden Finnlands ist eine der unwirtlichsten Landschaften der Erde – und sie hütet ihren geheimen Zauber wie einen Schatz. Kaum mehr als zwei Wochen nur legt die Tundra im Herbst ihr schönstes Kleid an: scharlachrote Heide, sonnig und warm, hier und da noch überstrahlt vom Blattgold der Birken und Espen, erfüllt und erleuchtet vom Orange der Beerensträucher. Die Natur feiert ein Fest und rollt ihrem zeitigen Gast – dem Winter – den roten Teppich aus.

Doch in diesem Jahr ist die Ruska nur ein blasser Schein ihrer selbst. Der Himmel hat dichtgemacht. Regen und Nebel sind unsere ständigen Begleiter. Nur ganz selten öffnet uns das Wetter ein Fenster und erlaubt einen kurzen Blick in die Weite der Paistunturi. Aber in solchen Momenten bekommen wir eine Ahnung davon, wie es ausgesehen haben muss: damals vor 10.000 Jahren – das eiszeitliche Europa.

Dana und ich sind diesen Weg vor Jahren schon einmal gegangen. Er führt quer durch ein riesiges Wildnisgebiet – 1600 Quadratkilometer Tundra und Strauchheide, doppelt so groß wie die Stadt Berlin und das gesamte Elbsandsteingebirge. Das Zentrum der Einöde wird wie eine zerbrochene Platte vom mächtigen Kevo-Canyon durchschnitten, einer 40 Kilometer langen Schlucht, die vor Millionen von Jahren bei einem Erdbeben entstand. Innen ragen schroffe Felsen teils dramatisch und senkrecht bis zu 100 Meter hoch über Geröllhalden und Birkenhainen auf. Oben erstreckt sich zu beiden Seiten weites, baumloses Land bis an den Horizont. Ein Pfad folgt dem Rand des Canyons, taucht bisweilen tief in ihn ein, nur, um sich anschließend wieder daraus empor zu winden. Die Tour ist anstrengend und dauert mehrere Tage. Es gibt keine Ausstiegsmöglichkeit unterwegs. Aber aussteigen will man auch nicht.

Ich kenne den Weg schon mein halbes Leben. 1990 hatte ich ihn – damals 18 Jahre alt – zusammen mit einem Schulfreund zum ersten Mal versucht. Ich weiß noch, wie wir unsere alten sperrigen Rucksackgestelle mit buchstäblich allem beluden, was der Supermarkt in Inari hergab – und was wir uns leisten konnten. Wir waren blutige Trekking-Anfänger und hatten keine Ahnung von dem, was uns erwartete. Das Abenteuer wurde uns schon am zweiten Tag zu viel. Wir mussten umkehren – zerschlagen und bitter gedemütigt.

Diese Schlappe ließ mir keine Ruhe, viele Jahre später kehre ich zurück in die Arktis: diesmal alleine, besser vorbereitet und wild entschlossen es zu schaffen – was mir dann auch gelingt. Aber der Weg fordert Tribut: Ersatzhose, Campingaxt und ein idiotischerweise mitgeschlepptes Buch bleiben als unnötiger Ballast in der Tundra. Erst, als ich die Tour weitere fünf Jahre später mit meiner Frau zum dritten Mal in Angriff nehme, bin ich ihr wirklich gewachsen. Und heute, bei der vierten Wiederholung, ist die Familie endlich komplett. Tochter und Sohn sind dabei. Es kommt mir vor, als ob sich ein Kreis schließt. Als ob der Weg ganz unbewusst zur Lebenslinie wurde – vollendet nach Jahren, wo alles begann.

„Machst du Kaffee?“ Einiges hat sich seit der Steinzeit nicht verändert – und wird es wohl auch nie. Vielleicht spüren das auch Wiebke und Thorben. Beide sind inzwischen erwachsen, geübte Wanderer und nicht zum ersten Mal in der Wildnis. Aber es gibt Dinge, die sie hier draußen immer noch lernen können. Die Arbeitsteilung gehört dazu: Holzhacken ist Männersache, Wasserkochen eher nicht. Das erscheint nicht besonders modern oder gar revolutionär, aber es hat sich bewährt. Alles fügt sich wie von selbst in eine archaische Ordnung: Männersachen. Frauensachen. Die Aufteilung des Gepäcks. Die Frage, wer das Zelt aufbaut und näher am Eingang schläft. Oder wer die Schokoriegel aus dem Rucksack zaubert. Nach wenigen Tagen hat sich dieses solidarische Jäger-und-Sammler-Prinzip eingespielt. Es funktioniert ohne Worte. Überhaupt gibt es in dieser Landschaft nicht viel zu reden. Alles hat seinen Sinn und seine Zeit. Wir brechen auf, sobald der Wind das Zelt getrocknet hat. Und suchen ein Lager, wenn die Sonne den Horizont berührt. Zeit fürs Wesentliche. Für uns.

So viel Nähe kann auch mal nerven. Es gibt Stunden, in denen uns das Wetter und die Rucksäcke schwer im Nacken sitzen und auf die Stimmung drücken. Wenn der Regen von vorne kommt, die Füße im Schlamm versinken oder die Hände steif sind vom stundenlangen Klammergriff um die Tragriemen. Dann halten wir Abstand. Dafür ist die Tundra wie gemacht. Man verliert einander in der nebelig-grauen Ferne schnell aus den Augen. Weil wir beiden „Alten“ obendrein unsere Kameras mitschleppen und gefühlt vor jeder Moltebeere in die Knie gehen, sind uns die Youngster manchmal kilometerweit voraus. Doch spätestens am Abend rücken wir wieder alle zusammen. Nachts wird es bitterkalt. Besonders die Stunden kurz vor dem Morgengrauen stellen uns und unsere dünn gewordenen Uraltschlafsäcke auf manche harte Probe. Einmal fällt das Thermometer sogar unter fünf Grad Minus. Wir spüren den anbrechenden Winter buchstäblich durch jede verschlissene Faser des Stoffs.

Nur einmal schlüpfen Dana und ich trotzdem mitten in der Nacht aus dem Zelt und wandern in der stockdunklen Tundra anderthalb Kilometer durch die Kälte – zum Rand des Canyons. Dort empfängt uns eisiger Wind. Der Himmel ist aufgerissen. Ein paar Sterne funkeln über der Schlucht. Sogar der Mond schiebt sein rundes Gesicht hinter einer dicken Wolke hervor und schaut erwartungsvoll in die Landschaft. Und dann geschieht es: Zuerst schwach, dann immer deutlicher zeigt sich am Horizont ein blassgrüner Schein. Er beginnt von Norden her über den ganzen Himmel zu weben. Wellenartig pulsierend. Geisterhaft. Magisch. Es ist, als ob die Tundra in ihrer grenzenlosen Weite und Präsenz plötzlich den Blick freigibt für Höheres. Vergessen sind alle Mühen und Wetterlaunen. Nur der Himmel ist noch wichtig. Mit klammen Fingern bringen wir die Kameras in Stellung. Anders als erwartet, hat uns die Paistunturi doch wieder in ihren Bann gezogen: Wegen des Lichts sind wir hergekommen.

2 Kommentare zu Im Bann der Tundra

  1. Toller Bericht Hartmut. Da wart ihr ja richtig weit im Norden… Und das als Family, die Erinnerung wird euch keiner mehr nehmen. Schönes Gemeinschaftserlebnis.

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