Rund 20.000 Rentiere leben im schwedischen Vindelfjäll. In der Mythologie der Sámi gelten sie als Wandler zwischen den Welten. Oft erscheinen sie wie aus dem Nichts und sind auch genauso schnell wieder weg. Über eine Tour unter ständiger Beobachtung.
Irgendwas ist am Zelt. Leise Tritte im Gras. Wieder Stille. Eine spürbare Präsenz. Plötzlich ein tiefes, mächtiges Fauchen ganz in der Nähe – ein Schatten huscht über den Stoff. Dann ist es ruhig. Ein Rentierbulle? Oder ein Stallo? Der riesenhafte Unhold aus den Sagen und Legenden der Gegend? Ich bin zu müde, um ein Phantom zu belauern und schlafe bald wieder ein. Am Morgen findet Dana hinter unserem Lagerplatz einen frischen Bärenhaufen.
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Zelten, wann immer es geht. Darin sind wir uns einig. Ein Bett unter dem weiten Himmel aufschlagen, den Wind- und Regengeräuschen lauschen – mit nicht mehr als einer Stoffbahn, die uns von der Landschaft trennt: von den Bergen mit ihren dunklen Wolkenkapuzen, den kristallklaren Seen, den Tieren und dem Wetter. Einschlafen in der verlorenen Welt, die Hunderttausende von Jahren unser Zuhause war. Die Welt der Tier- und Traumgeister.
Sylvain Tesson schreibt auf seiner Wanderung durchs ländliche Frankreich über ein „verborgenes Land“, das jenseits der Hauptwanderwege existiert. Eine alte, längst versunke Version Europas aus der Zeit der Feldsteinmauern und Kirchglocken. Vielleicht hat jeder Ort auf der Welt seine verborgene Seite. Landschaften sind schweigsame Gesellschafter, die ihre Geheimnisse lange für sich behalten und auswählen, mit wem sie sie teilen. Tesson wandert vier Monate lang auf stillen Pfaden von den südlichen Alpen über das Zentralmassiv bis zu den Klippen von La Hague. Wir sind 3000 Kilometer weiter nördlich unterwegs. Und anders als seins, ist unser „verborgenes Land“ nicht von einer Kulturschicht aus Autobahnen, Rapsfeldern und Stromtrassen überformt, sondern von unberührter Wildnis beschützt: das Vindelfjäll – eine entlegene, schwer zugängliche Berggegend in Schwedisch-Lappland, ein paar Kilometer südlich vom Polarkreis.
Die Hochebene ist Schwedens größtes Naturschutzgebiet und schon vorgemerkt für einen riesigen Nationalpark, 5600 Quadratkilometer unbewohntes Land – windig, rau und noch weitgehend unerschlossen. Zum Vergleich: Berlin würde sechsmal in dieses Gebiet hineinpassen. Nur wenige Hundert Menschen leben dort – zumeist in kleinen Dörfern wie Hemavan und Ammarnäs. Doch die eigentlichen Herren der Gegend kommen nur selten in die Siedlungen runter. Sie bleiben meistens oben in den Bergen, haben kein festes Zuhause, sondern ziehen bei jedem Wind und Wetter auf ihren uralten Pfaden umher – immer auf der Suche nach nahrhaften Kräutern, Gräsern und Flechten: An die 20.000 Rentiere streifen durchs Vindelfjäll, fast ein Zehntel der gesamten schwedischen Herdenpopulation.
Wir sind nicht wegen ihnen hier – sondern, weil es nur noch wenige Flecken in Europa gibt, wo man so unbehelligt seinem inneren Kompass folgen kann und so hautnah mit allem in Verbindung kommt, was die Natur zu bieten hat. Mit einem Mal steht man zwischen tausend Meter hohen Bergen mitten im Nirgendwo und kann sich auf nichts mehr verlassen. Die Richtung ist hier keine Vorgabe, sondern freie Wahl – jeder Schritt eine neue, unerforschte Möglichkeit. So als würde man mit den Füßen vergessenes Land entdecken, auf das noch nie ein Raumplaner oder Touristiker seinen Blick geworfen hat. Irgendwann, vor 5000 Jahren kamen die ersten Siedler in diese Gegend. Nur die Rentiere waren schon immer da.
Ihnen gehört es: das verborgene Land. Aber um das zu verstehen, muss man ein Zelt und genügend Proviant in den Rucksack packen und sich auf den Weg zu ihren höhergelegenen Weidegründen machen, so wie Lapplands Ureinwohner, die Sámi, es seit vielen Jahrtausenden tun. Über den südlichen Teil des Kungsleden kommt man auf recht bequemen Pfaden in einem guten Tagesmarsch von Ammarnäs hinauf ins Vorgebirge. Um tiefer in die Berge zu gelangen, muss man aber den ausgetretenen Weg irgendwann verlassen und in unmarkiertes Gelände abbiegen, wo sich alle Pfade und Spuren bald zwischen Sumpfgras und Strauchheide verlieren. Dort oben sind sie unter ihresgleichen: die Rentiere – die Nomaden der Tundra. Dort kreuzen sich unsere Wege.
Bald haben wir das Gefühl, sie beobachten uns. Wie von Zauberhand sind sie ab einer gewissen Geländestufe immer in der Nähe und lassen keinen unserer Schritte aus den Augen. Oft taucht eine Gruppe in der weiten Landschaft plötzlich einfach so wie aus dem Nichts auf und ist auch genauso schnell wieder verschwunden. Manchmal zehn bis 20 Tiere.
Rentiere sind Boten, sagen die Sámi. In den Mythen des Nordens wandeln die Tiere unablässig und ruhelos zwischen den Welten der Menschen und der Geister hin und her. So als wäre ihre Neugier und Zutraulichkeit Ausdruck einer heiligen Mission. Die Herden im Vindelfjäll gehören zu drei samischen Kommunen und sind seit Jahrhunderten an menschliche Nähe gewöhnt. Anderswo in Lappland sind uns schon scheuere Tiere begegnet, aber diese hier geben uns manchmal das Gefühl, als wären wir das Interessanteste, was ihnen seit Tagen passiert ist. Ungeniert schauen sie einem, aus sicherem Abstand, selbst bei den persönlichsten Geschäften zu. Egal, wie oft man sich vorher in der Weite der Landschaft seines Freiraums vergewissert – man hat den Ort nie ganz für sich allein.
Einmal sitzen wir abends auf einer Anhöhe in der Sonne und genießen das Panorama. Im Süden liegen die Sumpfgraswiesen des Mársevággie-Hochtals wie eine nordische Version der Serengeti vor uns: weithin offenes Land mit ein paar hingestreuten Zwergbirkengehölzen. Nur auf einer Seite wird die Sicht von der schroffen und finsteren Ostwand des 1353 Meter hohen Suvlåjvvie begrenzt. Wir sehen sie nicht kommen – aber plötzlich sind sie da: eine ganze Rentierfamilie, ein halbes Dutzend Tiere, weniger als einen Steinwurf von uns entfernt. Sie bleiben minutenlang in der Nähe und zeigen, auch als wir die Kameras zücken, keinerlei Scheu. Als wüssten sie genau, dass wir zwei keine Bedrohung darstellen. Da gibt´s ganz andere: In den Bergen des Vindelfjälls streifen Bären, Luchse und Vielfraße herum. Ein erwachsenes und gesundes Rentier entkommt der Gefahr. Für ein junges und schwaches Tier, das den Anschluss zur Gruppe verliert, kann es böse enden.
Stirbt ein Rentier, bricht für seinen Besitzer eine Welt zusammen – und zwar buchstäblich: Einst schuf der Gott Rádienakttje, der „Allesbeherrschende“, aus dem Körper einer schönen Renkuh die Welt. Ihr Fleisch wurde zu Land, die Adern zu Flüssen, das Fell zu Wäldern. Das Herz vergrub er tief in der Erde. Dort kann man es schlagen hören, wenn man ganz ruhig und offen dafür ist. Doch dafür sind unsere Rucksäcke und der Weg zu beschwerlich. Die Tiere sind viel besser zu Fuß als wir – und uns auch sonst in mancherlei Hinsicht überlegen. Ihre wilden Verwandten in Sibirien und Amerika legen auf ihren Wanderungen mehrere Tausend Kilometer pro Jahr zurück, so viel wie kein anderes Landsäugetier. So weit kommen die domestizierten Herden der skandinavischen Tundra zwar nicht herum. Doch die Evolution hat sie perfekt an die raue Umwelt angepasst. Rentierhaare sind innen hohl, was sie bestens vor Kälte schützt. Ihre Nasen sind die reinsten Wärmepumpen: Die Luft aus den Lungen wird beim Ausatmen so weit abgekühlt, dass möglichst wenig Feuchtigkeit entweicht, die Einatemluft hingegen wird vorgewärmt. Im strengen lappländischen Winter finden sie ihre Nahrung teils tief unterm Schnee, wo sie mit den Hufen Pilze und Flechten ausgraben. In ihren Weidegründen sind Rentiere den größten Teil des Jahres auf sich allein gestellt.
Wir dagegen haben alle möglichen Hilfsmittel im Gepäck – von Fertignahrung bis zu warmen Socken – und kommen doch, verglichen mit unseren zutraulichen Weggefährten, in der Wildnis kaum vom Fleck: In zehn Tagen legen wir kaum mehr als 100 Kilometer zurück. Wir schaffen es, die zentral gelegene Ammar-Gipfelkette einmal komplett zu umrunden – nur ein Bergmassiv von vielen im Vindelfjäll. Und danach sind wir so ausgelaugt, dass uns beim Abstieg ins Tal der erstbeste Hamburger mit Fritten und Bier wie ein Vorgeschmack aufs Paradies erscheint. Die Rentiere hingegen bleiben im Fjäll. In der Kälte. Und im Regen.
An unserem letzten Morgen in der Wildnis sehen wir sie nochmal weit oben auf einem Gipfelgrat die Köpfe nach uns austrecken. Vielleicht spüren sie in diesem Moment, was auch uns bewegt: dass wir Abschied nehmen müssen. Von Osten kriechen Nebelschleier über die Klippe und verschlucken die melancholische Szene. Es ist, als ob ein Vorhang fällt und unser verborgenes Land dahinter verschwindet. In den Bergen bricht jetzt, kurz vor Mitte August, schon allmählich der Herbst an. Die Blaubeeren sind reif. Die Tundra färbt sich rostrot und in den Bergwiesen singt der Goldregenpfeifer sein trauriges Lied. Die Rentiere ziehen weiter. Elf Kilometer vor Ammarnäs trennen sich unsere Wege. Wir müssen zurück in unsere eigene Welt. Dahin, wo vor zehn Tagen alles anfing: auf einem Parkplatz an der Landstraße 363.
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