Mach die Augen auf!

Mann im Nebel
Wie man sieht, sieht man nichts. Dieser Wanderer genießt den Blick ins Leere trotzdem, und manchmal reißt Nebel überraschend auf - und gibt atemberaubende Landschaftsbilder und Geheimnisse preis. (Foto: Mike Hannig)

Der Herbst ist seine Jahreszeit. Er verwandelt Landschaften in Aquarelle, packt Berge in Watte – und manchmal lässt er alles verschwinden. Vorhang auf für ein spektakuläres Schauspiel: Die Dramaturgie des Nebels.

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Exposition – Der Fotograf im Elbsandstein-Herbst

In den letzten Septembertagen erreicht ein erschöpfter Wanderer den Rand der Welt. Vor ihm klammert sich ein verlorenes Geschöpf mit verzweifelter Kraft an den Fels, um nicht in die gestaltlose Unendlichkeit zu fallen – eine schon halb verdorrte Krüppelkiefer. Hinter dem Baum ist das Diesseits zu Ende, alle Formen verlieren sich im Nichts. Der Mann packt ein Stativ und seine Kamera aus und richtet die Linse auf den gespenstischen Vorhang. Wie ein Wettspieler lauert er auf sein Glück. Auf irgendetwas. Vielleicht, dass sich der Schleier lüftet und dahinter ein Stück vom Jenseits zum Vorschein kommt. Eine Bergflanke zum Beispiel. Im Morgenlicht. Es wäre das perfekte Bild vom Herbst im Elbsandsteingebirge!

Thema – Ein Antagonist namens Böhmische Suppe

Der Nebel. Jetzt beginnt seine Jahreszeit und die meisten Fotografen in der Sächsischen Schweiz machen Jagd auf das malerische Phänomen. Mal verwischt der Nebel alle Kontraste und verwandelt die Herbstlandschaft in ein farbenprächtiges Aquarell, dann wieder liegt er wie ein schwerer Teppich in den Tälern und packt die Berge in weiße Watte. Früh aufstehen lohnt sich in jedem Fall! Es gibt jetzt sogar einen ganz eigenen, speziell fürs Elbsandsteingebirge lokaltypischen Herbstnebel. Den freilich mögen Fotografen nicht so gern. Und so bekam er einen eher despektierlichen Namen: Böhmische Suppe.

Konflikt – Was vom Gebirge übrig bleibt

Gemeint ist ein Hochnebelfeld, das im Herbst unter bestimmten Witterungsbedingungen regelmäßig aus dem benachbarten böhmischen Becken heraufzieht und sich elbabwärts bis nach Heidenau erstreckt. Dieser Nebel ist bekannt dafür, dass er das Panorama der Felslandschaft milchig eintrübt wie eine lange nicht mehr geputzte Brille. Oder, wie es ein erfahrener Elbsandsteinfotograf salopp auf den Punkt bringt: „Er versaut die Fernsicht!“

Einschub – Ein echtes Elbtal-Phänomen

Meteorologe in der Flugwetterwarte Berlin
Meteorologe Stefan Schiller beobachtet in der Luftfahrtberatungszentrale in Berlin-Tempelhof das aktuelle Wettergeschehen in Mitteldeutschland. (Foto: Anne Sänger)
Wetterkarte Europa
Wo Hochdruck- und Tiefdruckgebiete zusammentreffen, entsteht Wind. (Grafik: H. Landgraf/Quelle: S. Schiller)

Wie entsteht dieses lokale Wetterphänomen? Ein Experte gibt Auskunft: Meteorologe Stefan Schiller arbeitet als Flugwetterberater beim Deutschen Wetterdienst und ist für die Wetter- und Sichtbedingungen in Mitteldeutschland zuständig – also auch für die Böhmische Suppe. Alles beginnt, sagt er, mit einem Hochdruckgebiet über Osteuropa, unter dem sich das Böhmische Becken wie eine Badewanne mit Kaltluft füllt. Kalte Luft ist schwerer als warme und sinkt demzufolge nach unten. Und weil die Wanne hohe Ränder hat – Isergebirge, Erzgebirge, Lausitzer Bergland – kann sie auch nicht weg, zumal wärmere Luftschichten oben wie ein Deckel über diesem Kältekessel liegen. Wo sich die beiden Schichten berühren, bilden sich Hochnebel, weil Warmluft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann als Kaltluft. Dieser Cocktail bleibt solange eingeschlossen, bis von Westen ein Tief herannaht – dann gerät das ganze System in Bewegung. Weil sich Wind immer vom Hochdruck- zum Tiefdruckgebiet bewegt, beginnt die böhmische Kaltluft durch einen der wenigen Wannenabflüsse nach Sachsen hinein zu fließen – durchs Elbtal. So, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. Auf ihrem Rücken, in Höhen zwischen 500 und 1000 Metern, schleppt sie die Hochnebel mit. „Über große Teile des Erzgebirges kommen die nicht rüber, aber die Sächsische Schweiz wird voll erfasst“, sagt Stefan Schiller. Der Vorhang geht zu!

Wetterkarte vom Böhmischen Wind
Der Luftstrom bringt Hochnebelfelder nach Sachsen. (Grafik: H. Landgraf/Quelle: S. Schiller)

Auflösung – Ändere deinen Blickwinkel!

Was bleibt einem Fotografen übrig, wenn der Wind aus Böhmen mal wieder alles dicht macht in der Ferne? Mehr als genug! Er braucht bloß hinabzusteigen in die zerklüfteten Täler des Elbsandsteingebirges, wo sich auch bei ungünstigen Sichtverhältnissen eine atemberaubende Natur auftut. Etwa im Kirnitzschtal. Die Schluchtwälder der Kirnitzschklamm gehören zum Schönsten und Wildesten, das die Sächsische Schweiz außer ihren Felsen zu bieten hat. Silbrig ragen schlanke Tannen neben graubraun geschuppten mächtigen Fichten. Dazwischen wächst Hainbuche, Hasel, Bergahorn und Schwarz-Erle. Baumpilze kleben an moosgrünen Stämmen wie festgebackene Fladen. Die Kirnitzsch fließt als schimmerndes Band über schwarze Blöcke und die samtgrün leuchtenden Matten des Haken-Wassersterns. Unter einem heidekrautbewachsenen Felsen am Ufer hat ein Fischotter seine Spur hinterlassen. Ein Tal wie im Urzustand. Tausend Motive! Oder man macht es wie Björn Lilie und nimmt den Nebel einfach so wie er ist. Sein Foto (siehe unten) vom Herbst im Schmilkaer Gebiet wirkt fast wie eine Hommage an die Böhmische Suppe. Da ist sie – und hat in der Ferne alles verhangen. Und irgendwie ist auch das schön.

Herbststimmung in der Kirnitzschklamm
Ein Tal wie im Urzustand: Die Kirnitzschklamm im Herbstlicht. (Foto: Hartmut Landgraf)
Herbstnebel über dem Schmilkaer Gebiet
Blick aus dem Heringsgrund zum Rauschenstein. In der Ferne trüben Hochnebelfelder die Sicht. (Foto: Björn Lilie >>> zur Fotogalerie)

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