Normalerweise macht man sich im Elbsandsteingebirge nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr allein auf den Weg. Draußen ist kein Mensch mehr. Alles sieht fremd und trügerisch aus. Und manches davon will man lieber gar nicht sehen…
Keinen Schritt weiter! Die fußbreite Spur, der ich gefolgt bin, hört plötzlich auf. Um die Felsecke herum führt nur noch ein schwacher Sims aus Moos und Erde ins Ungewisse. Eine kümmerliche Birke klammert sich dort mit verzweifelter Kraft ans Leben. Man könnte hinübertreten, um zu schauen, was hinter dem Wandvorsprung kommt. Ich werde das aber nicht ausprobieren. Sehr wahrscheinlich würde ich damit nicht bloß das Schicksal des Bäumchens besiegeln – sondern mein eigenes gleich dazu. Vor den Schuhspitzen taucht der Felsen senkrecht hinab ins Bodenlose. Wie tief, kann man in der Dunkelheit kaum ermessen. Es könnten 15 Meter sein. Vielleicht aber auch mehr.
Längst habe ich das Vertrauen in meine Umgebung verloren. Sie hält mich schon seit mehr als einer halben Stunde zum Narren. Auf gut Glück bin ich vorhin von der Heiligen Stiege zum Riff hinaufgestiegen, nun krieche ich hier – teils auf allen Vieren – durch den Dreck, über abschüssige Klüfte und von einem Absatz zum nächsten. Ich weiß zwar, sie muss hier irgendwo zu finden sein, die legendäre Bussardboofe. Aber langsam kommen mir Zweifel, ob ich das heute noch schaffe. Erzählungen zufolge kann man den Platz kaum verfehlen. Doch was sagen schon Erzählungen über eine sternenlose, nebelverhangene Nacht? Man erkennt das vertraute Elbgebirge kaum wieder. Die Sächsische Schweiz steckt voller Rätsel und Tücken. Alles ist anders – und von trügerischer Gestalt.
Dienstagabend – ich habe Honigwein und meinen Schlafsack in den Rucksack gepackt, denn laut Wetterbericht soll es zumindest nicht regnen. Draußen zu schlafen ist für mich nichts Besonderes. Ich mache das manchmal, um den Kopf freizukriegen oder wenn ich allein sein will. Als ich mich von der Buschmühle auf den Weg begebe, ist es schon spät. Die Dunkelheit hat das letzte bisschen Dämmerlicht bereits verschlungen. Hinter der Brücke an der Neumannmühle führt die Zschandstraße wie in ein schwarzes Loch. Der Wald wird ungewöhnlich still, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Man läuft wie durch ein Kellergewölbe – angeweht von feuchtem Dunst und dunklen Vorahnungen. In den stockfinsteren Schluchten im Zeughausgebiet geht schon mal die Fantasie mit einem durch. Kein Mensch ist mehr hier draußen. Kein vertrautes Geschöpf. Bei Nacht und Nebel sieht der Wald völlig fremd und unnatürlich aus. Manches will man auch gar nicht sehen… Das Licht der Stirnlampe lässt Tropfen und Pfützen im Unterholz aufblitzen, als wären es Augen. Die Dunkelheit wird lebendig – sie bekommt Gesichter, Arme und Beine. Richtet man die Lampe darauf, verwandeln sich solche Erscheinungen blitzschnell und scheinfromm in harmlose Bäume und Steine – doch man spürt ganz sicher: Sobald man ihnen den Rücken zukehrt, nehmen sie wieder ihre alte Gestalt an.
Irgendwie schaffe ich es dennoch unbehelligt aus dem Zschand hinauf zur Goldsteinaussicht und über den Roßsteig zum Winterberg – und dann den Reitsteig weiter bis zur Heiligen Stiege. Viel sehen kann ich vom Wald ohnehin nicht, die ganze Zeit über steckte mein Kopf in einer LED-beleuchteten Atemwolke. Die Füße lenken das Abenteuer anscheinend von allein in die richtige Richtung. Nun aber sitze ich auf diesem verwünschten Riff wie in einem Irrgarten fest und finde partout keine Boofe. Der späte Start war ein Fehler, soviel ist sicher. Gut, irgendwo muss ich schlafen. Jetzt die Zwei-Stunden-Tour nochmal rückwärts abzuspulen, fehlt mir der Treibstoff – ein drittes Bier in der Buschmühle zieht gegen den Honigwein im Rucksack klar den Kürzeren. In einer steilen Kluft, die ich schon zweimal vergeblich hinaufgekraxelt bin, finde ich schließlich eine Art Notlager: Auf einem Absatz ist in Jahrtausenden eine winzige Nische aus der Wand herausgewittert. Man muss sich ganz eng an den Felsen schmiegen, um die Füße ins Trockene zu bringen – aber es wird reichen.
Vorsichtig schiebe ich eine Plane und meinen Schlafsack in den feuchten Spalt, hocke mich so gut es geht davor und bringe den Kocher in Gang. Meine Gedanken kreisen um unsichtbare Abgründe und unliebsame Tiere. Der Pfad, der die Kluft durchschneidet und auf dem jetzt das Fußende meines Schlafsacks liegt, könnte durchaus ein Wildwechsel sein. Ich erinnere mich an die Gerüchte vom Lorenzstein, wo im Sommer und Herbst ein offenbar verhaltensgestörter Fuchs mehrere Boofer angefallen haben soll. Im Grunde sind solche Gedanken hier draußen völlig normal. Wenn dich der Wald wie eine schwarze Wand umgibt und du eingezwängt und wehrlos im Schlafsack liegst, denkst du ganz automatisch an alles Mögliche. Man darf sich davon nur nicht irre machen lassen. Sonst ist es nur eine Frage der Zeit, bis wirklich etwas Unvorhergesehenes passiert.
Es kommt, wie es kommen muss: Die ungemütlichen Umstände und Gedanken fordern ihren Tribut. Ich finde ewig keinen Schlaf. Vor zwei Jahren habe ich drüben in den Wäldern bei Neustadt mal eine ganze Winternacht lang auf einem Hochsitz gesessen. Damals gab es dort noch Wölfe, und ich wollte unbedingt einen sehen. Ein Hochsitz ist kein gutes Nachtlager – ziemlich zugig und eng. Ich erinnere mich, wie der Schnee zu den offenen Seiten hereintrieb und sich als ein stechend kalter Puderzuckerfilm auf mein Gesicht legte. Mit jeder Stunde wurde der winzige Bretterverschlag immer noch kleiner und unbequemer. Knie und Rücken fingen bald an zu schmerzen, die Füße wurden kalt – schließlich fand ich in der Diagonalen doch eine halbwegs entspannte Position und glitt in eine Art Dämmerzustand hinüber, in dem Traumbilder nicht mehr sicher von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. So ist es heute auch.
In den frühen Morgenstunden bin ich mit einem Schlag hellwach. Mir war so, als wäre auf leisen Sohlen jemand über die Plane hinter meinem Rücken geschlichen. Irgendetwas ist da. Hastig strecke ich den Kopf aus dem Schlafsack und schalte die Stirnlampe an. Die Schlucht verrät nichts und verharrt in tiefer Stille – auch die Bäume stehen schwarz und reglos da, und der Lichtkegel trifft dazwischen nichts als blassen Dunst. Erst, als ich mich schon beruhigt wieder aufs Ohr legen will, nehme ich aus den Augenwinkeln eine winzige Bewegung am Fußende meines Schlafsacks wahr – und sehe gerade noch rechtzeitig eine Maus in panikartiger Flucht unter der Plane hervor im Gebüsch verschwinden. Wütend auf mich selbst, mache ich das Licht aus und zwänge mich wieder zurück in meine unbequeme Schlafposition. So kann ich kaum mehr als fünf Minuten gelegen haben, als erneut etwas auf meine Unterlage tapst. Doch diesmal sind es schwere Schritte.
Man könnte die Geschichte hier enden lassen – denn an diesem Punkt war zumindest meine Nacht zu Ende. Aus dem Schlafsack heraus fällt der Schein meiner Lampe mitten in ein großes, spitzes Gesicht. Vor meiner Nase, direkt hinter dem Kopfteil des Schlafsacks, steht ein kapitaler Fuchs und blickt mir unverwandt und seelenruhig in die Augen. Mir ist, als könne ich seinen Atem auf meiner Stirn fühlen. Ein großes und sonderbar stilles Tier, das keinerlei Anzeichen von Furcht oder Vorsicht zeigt. Mir hingegen fährt der Schreck in alle Glieder – und ich kann nicht anders, als mich einen Wimpernschlag lang wie seine Beute zu fühlen. In Sekundenbruchteilen fahre ich aus dem Schlafsack, reiße die Lampe hoch und fuchtele Meister Reineke damit wild vor der Schnauze herum – meine Spannung entlädt sich in einem heiseren Gebrüll, das alle Boofer in der näheren Umgebung aus dem Schlaf gerissen und in Angst und Schrecken versetzt haben dürfte. Da endlich trollt sich der Fuchs – keineswegs hektisch, sondern ganz gemächlich – so als sei er über meine Verbalattacke mehr beleidigt als schockiert. Mit einem letzten meisterhaften Satz verschwindet er unterhalb meiner Schlafnische zwischen den Felsen und aus meinem Sichtfeld.
War es das, was ich hier draußen will? Abenteuer! Ich bringe den Kocher in Gang, wärme den Rest vom Honigwein auf und sinniere dem Morgengrauen entgegen. In unserer bunten Papier- und Plastikwelt sind wir von Abenteuern übersättigt. Wir erleben sie in Endlosschleifen im Fernsehen, blättern uns in Zeitschriften durch sie hindurch, surfen im Internet mit ihnen um die Wette – und sind im Grunde ganz froh, dass wir hinterher noch duschen und satt ins warme Bett schlüpfen können. Doch das sind geträumte Abenteuer – billiges Spielzeug. Ein echtes Abenteuer aus Fleisch und Blut ist nicht harmlos. Es hinterlässt Spuren und Narben, ergreift und durchzuckt dich, gönnt dir keine Ruhe, bringt dein Blut zum Gefrieren oder verdreht dir den Kopf. Als ich am Morgen meinen Schlafsack zurück in den Rucksack packe, ahne ich, dass ich allen Grund habe, dem Fuchs dankbar zu sein. Und sei es nur für ein Rauschgefühl aus Adrenalin, blutigen Lippen – und Lebendigkeit.
Na Hartmut, das Boofen finden werden wir wohl nochmal üben müssen 🙂
Ich leide meine Qualifikation aus der Tatsache ab, dass mal in einer Neumondnacht an der Ilmenquelle auf dem Weg zur Boofe meine einzige Lampe kaputt ging. Habe die Boofe gefunden, seitdem aber ein Loch im Rucksack (Wegvektor im einige Meter verfehlt).
Das Verhalten des Fuchses gibt mir zu denken. Wobei ich die aus Radebeul auch als sehr dreist kenne.
Mal aus der Fuchs-Perspektive betrachtet: Falls einer von uns beiden verhaltensauffällig war, dann doch wohl ich 😀
Hallo Hartmut. Großartig – danke für dieses Gedankenbild. Habe mich stellvertretend ein wenig mitgegruselt und denke, ich buche weiterhin die gemütlichen Unterkünfte in der Sächsischen Schweiz :-).
Lg Sandra
Dagegen spricht überhaupt nichts 😉
Lg Hartmut
Ganz genau. Boofen sind was ganz furchtbares. Von Siebenschläfern und Mäusen verseucht, die nachts die Ausrüstung zu konfettigroßen Schnipseln verarbeiten. Das mit dem Fuchs wissen wir ja jetzt. Beim Pinkeln kann man schnell mal hundert Meter tiefer in den Baumwipfeln landen. Von den Werwölfen bei Vollmond wollen wir mal nicht reden. Also lieber in den kuscheligen Quartieren bleiben