Es gibt kaum etwas, was die wanderverrückte Sunny am Elbsandsteingebirge nicht mag – sie liebt seine Farben, Sonnenaufgänge und Nebel. Eine kleine zerzauste Kiefer. Und das Gefühl, nach Jahren im Flachland endlich wieder zu Hause zu sein. Manchmal, so scheint es, braucht sie dafür ein Ventil.
Die Welt von oben anzusehen, dieses Gefühl hat die 37-jährige Sunny viele Jahre vermisst. Leipzig fand sie zu flach. Im hessischen Hanau war es nicht besser. Sunny mag Berge, auch wenn es nur ganz kleine sind – wie im Elbsandsteingebirge. Sie genießt Orte, wo man morgens der aufgehenden Sonne entgegenklettern und abends dem Alltag aufs Dach spucken kann. Nach Jahren hat sie das Gefühl, endlich am richtigen Ort zu sein – zu Hause.
Sunny lebt in Königstein am Fuß der Festung – in einem Ort, an dem viele vorbeifahren ohne anzuhalten. Die Innenstadt wurde in den vergangenen 15 Jahren dreimal vom Hochwasser überflutet, die verwinkelten Gassen sind teils hübsch saniert aber still. Doch Sunny sucht das Leben nicht in Schaufenstern und quirligen Einkaufspassagen. Sie hat einen anderen Zugang gefunden: Er führt gleich gegenüber von ihrem Küchenfenster auf der anderen Elbseite einen schmalen Pfad den Berg hinauf zum Lilienstein, immer höher über moosgrüne Pflastersteine und Stufen. Durch einen Wald, in dem alte Wurzeln und heraufziehende Nebel Geschichten von früher erzählen und allerlei Tiere durchs Unterholz schleichen. Der Pfad endet oben auf dem Felsen vor einer kleinen strubbeligen Kiefer, die ein bisschen so aussieht wie der längst vergessene Rasierpinsel, den man nach Jahren plötzlich im untersten Schubfach des Badezimmerschranks wiederfindet. Dieses Bäumchen ist so etwas wie ihr heimlicher Hausaltar. Hier ist sie sich selbst am nächsten.
„Als Kind kannte ich hier jeden Stein“, erinnert sich die junge Frau. Seit sie vor zwei Jahren zurück in die Heimat zog, entdeckt sie die Sächsische Schweiz noch einmal völlig neu – und plötzlich wird etwas in ihr lebendig, von dem sie selbst gar nicht mehr wusste, dass es da ist: die Liebe zu ihren Wurzeln. Sunny stöbert in den Archiven ihrer Heimatstadt zwischen alten Handschriften herum, sucht Winkel und Ecken im Elbsandsteingebirge, die ihr noch Rätsel aufgeben oder neue Blickwinkel öffnen – und steigt neuerdings sogar auf Klettergipfel, um ihre alte Welt mit anderen Augen zu sehen.
Beim Herumgraben findet Sunny im Internet auch ein altes Bild ihrer Heimatstadt – eine Lithographie von Ernst Hasse, Königstein zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Bild ist kaum größer als eine Postkarte – viel zu klein für Sunnys neues Lebensgefühl. Kurz entschlossen besorgt sie sich Buntlack aus dem Baumarkt, spannt in ihrer winzigen Dachwohnung ein Leinentuch von der Größe eines Rahsegels auf, und nimmt das monumentale Replikat in Angriff. Das Talent dazu hat sie von ihrem Vater geerbt – Eddy, einem stadtbekannten Maler und Musiker, von dessen künstlerischen Fähigkeiten in Königstein noch allerlei Spuren zu finden sind. Anfangs ahnt Sunny davon gar nichts, sie hatte Langezeit kaum Kontakt zu ihrem Vater – er stirbt ein Jahr vor ihrer Rückkehr. Doch nun tritt sie in seine Fußstapfen. Und erfüllt damit auch ein Versprechen, das sie ihm kurz vor seinem Tod noch gab: weiterzumachen, wo er aufhören musste.
Man spürt aber nichts Schweres oder Trauriges in ihrem Wesen. Vielleicht zeigt sie es nicht. Bei ihr läuft das so: Sie setzt sich etwas in den Kopf, trifft eine Entscheidung und wie von Zauberhand fügen sich die Dinge plötzlich zu einem stimmigen Bild. Sunny mag das so am liebsten – in den sozialen Netzwerken spielt sie sogar ein bisschen damit. Sie hat mehr als 500 Facebook-Freunde, ist in mehreren Gruppen unterwegs und lässt andere gerne teilhaben an ihrer Welt. Eines ihrer wichtigsten Werkzeuge ist ein kleines schwarzes Smartphone mit einem strahlenförmigen Sprung im Glas – oder, wie Sunny dazu sagt, mit einer „Spider-App“. Die Lebensgeister des angeschlagenen Geräts scheinen nicht im Mindesten beeinträchtigt, das Handy ist genauso munter im Dauerbetrieb wie seine Besitzerin. Es ist Sunnys Brücke zu ihrer Community, denn sie ist keine stille, in sich gekehrte Träumerin, sondern ein lebendiger Wirbelwind. Im Internet tobt sie sich fast mit der gleichen leidenschaftlichen Abenteuerlust aus wie zwischen ihren Felsen – sie stößt etwas an und amüsiert sich, wie sich die Dinge verselbstständigen und dabei spannende oder witzige Wendungen nehmen. Bei Facebook passiert das laufend. Egal, ob Sunny Fotos oder Kommentare postet: die Leute steigen auf ihre Lebenszeichen ein – manchmal so zahlreich, dass man einen geheimen „Gefällt-mir“-Trojaner im Netzwerk vermutet. Was Sunny besser kann als andere: Sie geht mit offenen Augen durch die Welt und entdeckt lauter originelle Kleinigkeiten und Situationen. Während manche Elbsandsteinfotografen verzweifelt auf ein spektakuläres Winterpanorama lauern, findet Sunny Mücken im Schnee, und wenn mal gar kein Foto-Wetter ist, zieht sie sich spontan eine Kittelschürze über und postet ein hausbackenes Küchen-Selfie in ihr Profil, das Alice Schwarzer wütende Tränen in die Augen treiben würde. Es ist diese ungekünstelte Lebensfreude, die kräftig ansteckt. „Ich bin ein beweglicher Mensch“, sagt sie über sich selbst. Das stimmt besonders für ihre Füße, die Sunny nur mit allergrößter Mühe stillhalten kann. Bei jedem Wetter zieht es sie nach draußen und auf irgendeinen „Huggl“ rauf. Wer ihr dann etwa beim Schuhzubinden in die Quere kommt, hat verloren und muss mit. Ihr 14-jähriger Sohn kann ein Lied davon singen.
Aber vor der großen Leinwand kommt selbst Sunny an ihre Grenzen. Nach irgendeinem Pinselstrich hat sie die Nase voll von ihrem monumentalen Königstein-Panorama und genehmigt sich eine Kaffeepause, die ein halbes Jahr dauern wird. Sunny hat eine ganze Reihe kleinerer Kunst-Projekte: Holz-Schatullen, denen sie mit dem Lötkolben allerlei graphischen Zierrat einbrennt: die Liliensteinkiefer – oder das Konterfei von Kurt Cobain. Und sie hat ihren Sohn und einen Job in der Gastronomie, die ihre Zeit und Kraft beanspruchen. Vorübergehend landet das Tuch zusammengeknüllt in der Ecke. Doch irgendwann im Januar kehrt die Lust auf den großen Wurf plötzlich zurück, und Sunny nimmt einen zweiten beherzten Anlauf. Die Sache gipfelt in einem dreiwöchigen Schaffensrausch, an dem Georg Friedrich Händel bei der Komposition des „Messias“ seine helle Freude gehabt hätte: Sunny malt sich in Wut, kämpft erbittert mit Wolken und Wäldern, Türmen, Dächern und Menschen – mit ihrer ganzen widerspenstigen Lackfarben-Landschaft, die mal zu saftig erscheint, dann wieder zu blass, je nachdem, in welchem Licht man sie betrachtet. Am allermeisten aber kämpft sie gegen den inneren Schweinehund, der an manchen Tagen wie wild an der Leine zerrt und nach draußen will. Irgendwann in diesen Wochen platzt Sunny der Kragen: „Der verfluchte Scheiß muss fertig werden, damit ich ihn los bin.“
Es gibt keinen besonderen Grund, warum sie diese Mühe überhaupt auf sich nehmen musste. Niemand bezahlt sie für das Bild, und in ihrer Wohnung ist nicht genug Platz, um es anständig aufzuhängen. Doch nun ist es da, und Sunny ist froh darüber. Als nächstes wird sie ihr Handy in die Hand nehmen und das Bild mit ihren Freunden teilen. Vielleicht, überlegt sie, wird sie das Bild vermieten. Vielleicht ist es am Ende aber auch nichts weiter als eine Statusmeldung in ihrem Facebook-Profil – allerdings eine von denen, die man sich merkt und die etwas zu bedeuten haben: Hier ist Sunny! Ich bin angekommen. Zu Hause.
Hallo Hartmut,
Danke für den tollen Blogartikel.
Schönes Wochenende
LG Thomas
Dankeschön. Dir auch
Habe Deine Seite heute, nach dem 13. Februar, gelesen und zolle Dir/Ihnen großen Respekt. Ich glaube zu wissen, wie ein „Umzug“ – sei es auch in die Heimat – und auch das zeitweise Wegwerfen bzw. das erneute Aufrappeln samt „Drumherum“ an den eigenen Nerveen zehrt.
Zur Zeit habe ich selbst zuhause Blei- und Buntsifte, einen Zeichenblock und Farbkulis zurhand genommen und ein neues Hobby nahm seinen Lauf.
Vordem, das heißt vor meiner „Parkinson-Zeit“, war ich aktiver ehrenamtlicher DRK-Ausbilder in dem Bereich Dresden Land und auch in diesem Zusammenhang „schöpferisch“ im Gelände der Sächsischen Schweiz zu Prüfungen u.a.m. unterwegs. Es gelang immer, den Teilnehmern die Schönheit und die „Geheimnisse“ der einmaligen Natur nahe zu bringen. So auch rundrum um die Burg Königstein, die Du so imposant mit Farbe gezeichnet hattest, und das Städtchen Königstein mit seinen wertvollen Funktionsträgern (z.B. Wehrleiter), welche für Bildung/Erziehung/Förderung der Jungen SanitäterInnen und auszubildenden Gruppenführer in einer gleichwohl sinnvollen Freizeitgestaltung ihren Part jeweils jedes Jahr beispielhaft erfüllten bzw. nahezubringen.
Und so ist es nicht verwunderlich, daß ich ebenfalls Bergmotive sowie Natur-Zeichnungen den Vorang – gleichfalls Dir/Ihnen – gebe.
Hut ab ihren Leistungen und vielleicht auch
mir/uns weiterhin ein Gutes Gelingen/Malen!
Hallo,
*Und hier entsteht demnächst Sunnys eigener Webspace * kannst du umändern 😉
Die Seite ist da.
Viele Grüsse aus der Schweiz.
pime
geändert 😉
Dankeschööön