Wenn es Winter wird, macht sich ein großer Jäger aus dem hohen Norden in der Sächsischen Schweiz breit – der Raufußbussard. Was bedeutet das für die heimische Tierwelt?
Still und verlassen ruht die Hochfläche östlich von Hohnstein unter dem blassgrauen Dezemberhimmel. Noch ist kein Schnee gekommen, aber die Luft ist dünn und atmet schon den Winter. Wenn man stehenbleibt, kriecht einem die Kälte augenblicklich von den Schuhsohlen aufwärts in die Hosenbeine, nistet sich im Stoff ein und dringt durch die Haut allmählich in alle Knochen. Ich trete auf der Stelle herum, während ich mir Notizen mache. Weit und breit gibt es nichts als abgeerntete Felder. Trotzdem fühle ich mich beobachtet. Ich weiß, dass irgendwo da draußen ein ungemein scharfes Augenpaar auf uns gerichtet ist. Aber noch haben wir ihn nicht entdeckt, den Raufußbussard.
Ulrich Augst sucht mit seinem Fernglas die umliegenden Äcker ab. Der Raubvogelspezialist des Nationalparks hat den Raufußbussard schon des Öfteren in dieser Gegend beobachtet. Trotz Kälte trägt Augst seine Fleecejacke offen, so als ob es nur eine Frage von Minuten wäre, bis wir den Gesuchten zu Gesicht bekommen. Doch bisher lässt sich der seltene Gast aus dem hohen Norden nicht blicken. Unbekümmert zieht ein Schwarm Goldammern über die Felder. Vielleicht ist der Raufußbussard ein Meister der Tarnung. Seine Jagdmethoden sind jedenfalls perfekt an die baumlosen Kältesteppen Nordskandinaviens und Sibiriens angepasst. Hat er seine Beute erspäht, gleitet er unauffällig und in Bodennähe heran – bis er sie mit seinen tödlichen Krallen und dem gefährlichen Hakenschnabel zu packen bekommt. Zum Glück sind Ulrich Augst und ich für seinen Appetit ein Stück zu groß.
Ein mächtiger Nahrungskonkurrent
Kleinere Vögel, Mäuse oder Hasen aber müssen jetzt auf der Hut sein. Denn der kräftezehrende Flug über mehrere Tausend Kilometer hat den Raufußbussard hungrig gemacht. Wenn er in seinen arktischen Gefilden nichts mehr zu fressen findet, setzt sich der nordische Jäger in Bewegung und verbringt den Winter in Mitteleuropa – unter anderem in der Sächsischen Schweiz. Das bekommt auch sein Cousin, der Mäusebussard, zu spüren. Gegen den mächtigen Konkurrenten vom Polarkreis hat der heimische Bussard nämlich kaum eine Chance, sein Revier zu verteidigen. „Der Raufußbussard ist größer und schwerer – den juckt es gar nicht, wenn ihn ein Mäusebussard angreift“, sagt Ulrich Augst.
Nicht nur in Proportion und Kraft unterscheiden sich die beiden Verwandten. Das Gefieder des Raufußbussards ist am Bauch zumeist dunkel, die Brust ist heller – beim Mäusebussard ist es umgekehrt. Auch die Körperhaltung zeigt, wer von beiden der Chef ist. Der Raufußbussard sitzt so aufrecht und stolz wie ein Adler auf seinem Beobachtungsposten, erklärt der Nationalparkmann.
Plötzlich runzelt Augst die Stirn, kneift die Augen zusammen und zeigt auf eine weit entfernte Baumgruppe. „Da ist einer“, sagt er selbstsicher. Ich richte mein Fernglas auf den vermeintlichen Raufußbussard, entdecke aber nichts als ein unförmiges Etwas in den Zweigen. Das könnte alles Mögliche sein – eine riesige Krähe, ein verlassenes Nest oder eine alte Jacke… Unmöglich, das komische Objekt zu identifizieren. Ulrich Augst aber scheint sich sicher zu sein – lediglich das Geschlecht des Vogels kann er noch nicht bestimmen. Beim Männchen weist das Schwanzgefieder mehrere dunkle Bänder auf, beim Weibchen nur eines, aber das kann man aus dieser Entfernung beim besten Willen nicht erkennen. Wir nehmen Kurs auf den Baum. Immer deutlicher zeichnet sich seine Krone vor der graubraunen Kuppe des Gickelsbergs ab. Zu unserer Rechten streckt sich die Waitzdorfer Höhe nach Süden – dort irgendwo beginnt das Felsgebiet und das Revier des Wanderfalken. Muss der jetzt etwa auch um seine Beute fürchten? Ulrich Augst sieht die Natur mit anderen Augen. Zu viel Wettbewerb ums Futter regelt die auf ihre ganz eigene, unsentimentale Weise – durch Abwanderung und Geburtenrückgang.
Völkerwanderung am Himmel
Doch bevor im Frühling die nächste Brutsaison im Elbsandsteingebirge beginnt, kehrt erst mal Ruhe ein. Viele heimische Singvogelarten – Mönchsgrasmücke, Sommergoldhähnchen, Singdrossel und ein Großteil der Rotkehlchen – ziehen fort und überlassen das Gebiet ihren nordischen Vettern: Bergfink, Schneeammer, Berghänfling. Nur der Sperling lässt sich nicht aus seinem Revier vertreiben. Greifvögel wie der Wanderfalke müssen ihren Aktionsradius deutlich vergrößern, weil das Nahrungsangebot im Winter knapp wird. Nicht ausgeschlossen, dass sie draußen im Freiland dann manchmal mit den Skandinaviern ins Gehege geraten – mit Kornweihe, Merlin und Raufußbussard. Aber zumindest im Sandsteingebiet muss der Wanderfalke keine fremde Konkurrenz fürchten, denn der Raufußbussard braucht zum Jagen ausgedehnte kahle Hochflächen, ganz wie in seiner Heimat.
Inzwischen sind wir auf ein paar Hundert Meter an den Baum herangekommen. Und natürlich haben wir es falsch gemacht, erklärt Ulrich Augst später. Denn wer einen Bussard beschleichen will, muss sich möglichst unauffällig verhalten und scheinbar ziellos und im Zickzack auf ihn zu bewegen, sonst schöpft der Vogel Verdacht. Wir aber sind wie zwei nordische Moschusochsen mit schweren Schritten geradewegs auf ihn losgestürmt. Nun ja, uns beiden ist kalt. Das Resultat lässt nicht lange auf sich warten. Plötzlich breitet die etwas zu dick geratene Krähe da drüben ihre Schwingen aus, rund anderthalb Meter in der Spanne, und wächst zu einem riesenhaften, bildschönen Phönix heran, der sich gemächlich und keineswegs hektisch in den grauverhangenen Dezemberhimmel erhebt. Andächtig blicken wir ihm hinterher, bis wir ihn über der Waitzdorfer Höhe aus den Augen verlieren. „Der Schwanz hatte nur ein Band“, sagt Ulrich Augst. Ich weiß Bescheid. Ein Weibchen.
toll weiter so und nimm warme sachen mit wenn du soviel draussen bist ….
Super toll geschrieben! Das macht Lust auf mehr. DANKE!!!