Islands Hochland ist eine Landschaft voller Gegensätze – eine vorzeitliche Welt aus Feuer und Eis, Wasser und schwarzem Sand, wo Berge sich öffnen und selbst Flechten und Gräser noch um ihre Daseinsberechtigung kämpfen. Kein Ort für Kinder. Oder doch gerade? Die Familiengeschichte einer Wanderung über die jüngste Insel Europas, die so aussieht, als wäre sie die älteste.
Wasser ist stärker als alles andere. Es versetzt Berge, spaltet Stein, erschafft Leben und bringt aus dem Nichts eine neue Welt hervor, in der nach unendlich langer Zeit schließlich denkende Wesen in wasserabweisender Funktionskleidung unbeschadet den Geburtskanal eines jungen Gebirges durchwandern können, im Grenzbereich zwischen Feuer und Eis – wo sich die Erde auftut, um giftige Dämpfe in die Luft zu blasen und selbst Flechten und Gräser noch um ihre Daseinsberechtigung kämpfen müssen. So ist Island, sobald man die Küste verlässt und dem Lauf der zahllosen Bäche entgegen ins Hochland hinaufsteigt. Man gelangt in eine Art Urzeit – ein magisches Reich voller Rätsel und Abenteuer. Wo die Berge wie Fabelwesen aussehen, böse grummeln und nach faulen Eiern riechen. Wo der Boden auch im Winter warm bleibt, während in der eisigen Luft alles Leben erlischt. Wo man den Sommer daran erkennt, dass es regnet statt schneit. Ein Ort extremer Gegensätze.
Elbsandstein-Touren | Reisereportagen
Es gibt einen alten Kinderfilm, der eine solche Geschichte erzählt – von einer Reise zurück in die Urzeit, gegen den Lauf des Wassers. Er entstand 1955 unter der Regie von Karel Zeman in tschechoslowakischen Filmstudios und handelt von vier Jungen, die herausfinden wollen, wie das Leben auf die Erde kam. In einer magischen Höhle finden sie den Fluss der Zeit, der – wenn man ihn rückwärts befährt – zum Anfang aller Dinge zurückführt. Eine solche Reise kann man tatsächlich unternehmen. Zu Fuß auf dem Laugavegur, in Island. Der Weg ist ein Trekking-Klassiker. Verlängert um seinen Zubringer, über den 1000 Meter hohen Pass des Fimmvörðuháls, wandert man in sechs Tagen vom Eyjafjallajökull an der Küste zu den bunt schillernden Rhyolithbergen von Landmannalaugar und erlebt unterwegs ein spannendes Stück Erdgeschichte. Denn obwohl es viel älter aussieht, ist Island die jüngste Insel Europas – eine Welt im Entstehen, geboren aus Lava und Asche. Eine Landschaft, die noch in den Kinderschuhen steckt. Aber kann man sie auch in solchen durchwandern?
Faszination Trekking
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Ende Juni brechen wir auf, um das herauszufinden: meine Frau Dana und ich, gemeinsam mit unserem 13-jährigen Sohn. Wir wissen, dass wir uns auf das Nötigste beschränken müssen, um diese Wanderung zu bestehen: Zelt, Schlafsack, zwei T-Shirts pro Kopf, Socken, Regenhose, Pullover, Mütze, Handschuhe – Trockennahrung und ein paar Müsliriegel. Trotzdem kommt eine Menge schwerer Kram zusammen, von Gaskartuschen über Sandalen für die Flussquerungen bis hin zur Fotoausrüstung. Am Ende wiegt mein Rucksack 27 Kilo, der meiner Frau 23. Auch unser Sohn hat sein Bündel zu tragen. Wir fügen uns der Einsicht, dass in seinem Fall zur Urzeit-Grundausstattung neben Schlafsack, Anorak und Isomatte u.a. auch Utensilien wie Kopfhörer und ein Band von Star Wars gehören – beides ist nicht verhandelbar. Aber er muss es selbst schleppen.
Unsere Tour beginnt am Skógafoss, einem berühmten Wasserfall, der sich zu Füßen des Eyjafjallajökull 60 Meter in die Tiefe stürzt. Der Legende nach soll sich in der Felsschlucht hinter dieser gewaltigen Wassersäule ein sagenhafter Schatz verbergen. Island steckt voll solcher Geschichten. Seit die Insel im 9. Jahrhundert von Wikingern besiedelt wurde, hat sie die Fantasie der Europäer beflügelt. Die Edda und die isländischen Sagas inspirierten die mittelalterliche Dichtkunst und wurden Teil der Weltliteratur. Auch in neuerer Zeit machen die Nachfahren der Nordmänner mit ihrer erzählerischen Kraft von sich reden: Schriftsteller wie Halldór Laxness (Die Islandglocke) oder Fríða Sigurðardóttir (Ninas Geschichte) sind nur die prominentesten Beispiele. Es wohnt etwas Magisches in dem Zusammenspiel von alten Mythen und Moderne, sodass man nicht überrascht wäre, von der für isländische Verhältnisse viel befahrenen Küstenstraße Nummer eins am fernen Horizont das windgeblähte Segel eines Drachenschiffs zu erspähen. Auf Island ist der Glaube an Elfen und die nordische Götterwelt um Odin, Freya und Thor bis heute lebendig – und seit 1972 eine staatlich anerkannte Religion. Vielleicht liegt es daran, dass auf diesem schwarzen Stück Erde zwei elementare Naturgewalten unversöhnlich und beständig um die Vorherrschaft kämpfen: Vulkane und Gletscher, Feuer und Wasser. Oder die Magie kommt aus einer Tiefe, zu der die Baggerschaufeln der Vernunft nicht hinabreichen – und die nur ein leidenschaftliches Herz ausloten kann.
Zum Glück haben wir Gummibärchen dabei. Sie werden in den nächsten Tagen auf den übelsten Kraftetappen des Laugavegur unser wichtigster Joker. Zunächst stapft unser Jüngster noch ziemlich munter und unbekümmert auf die vor ihm liegende Bergwelt drauflos, als könne man sie wie eine Minecraft-Landschaft mit ein paar Klicks beiseite räumen. Kann man aber nicht. Island zeigt uns gleich zu Anfang die kalte Schulter. Schon auf den ersten Kilometern geht es hart bergauf. Und das bleibt auch so, den ganzen Tag, bis wir nach acht elend langen Stunden schließlich auf der Passhöhe des Fimmvörðuháls zwischen Gletschereis, Schnee und grobem Vulkanschotter völlig entkräftet die Rucksäcke abwerfen, unser Zelt aufschlagen – und die erste Tüte Gummibärchen aufreißen. Es gibt auf dem Sechs-Tage-Marsch nach Landmannalaugar keine Fluchtpunkte fürs Wenn und Aber. Hat man sich einmal darauf eingelassen, muss man auch durch.
Vom Fimmvörðuháls geht es weiter nach Þórsmörk (isl. Thors Wald), hinunter in einen zerklüfteten Canyon, auf dessen Grund lichte Zwergbirkenwälder ihr mühsames Dasein fristen und sich die tosenden Gletscherfluten der Krossá ihren Weg bahnen, als würde sich der Fluss in einem Bett aus Geröll und Bruchstein sein eigenes Grab schaufeln. Der Zeltplatz in Þórsmörk ist die letzte Gelegenheit, nochmal die Vorräte aufzustocken, bevor es endgültig in die Wildnis geht – ein winziger Laden, dessen gesamtes Sortiment in zwei Rucksäcke passt, versorgt ausgehungerte amerikanische Pfadfindergruppen und einsame Trekkingfamilien aus Sachsen zu stolzen Preisen mit Cola, Instantnudeln und Schokolade. Die Schutzhütten weiter oben in den Bergen sind zwar im Sommer meist „bewirtschaftet“, verkaufen aber nichts außer Papierstickern, die man sich ans Zelt klebt, um auf diese Weise sein Bleiberecht zu deklarieren. Am Morgen kämpft sich ein geländegängiger Hochlandbus das Tal zu uns hinauf. Wir beobachten, wie er mit der stählernen Schnauze voran ächzend in die Tiefen der Krossá eintaucht, um den Zeltplatz zu erreichen – den schweren Hintern nachziehend – und nach ein paar bangen Minuten souverän wie eine Bergziege das gegenüberliegende Ufer hinaufklettert. Ein paar fußmüde Trekker mit Monsterkraxen steigen ein. Wir hingegen brechen auf – in die entgegengesetzte Richtung.
„Wie weit ist es noch?“ Was soll man auf diese Frage antworten, wenn sie einem inmitten einer Wüste aus Sand und schwarzer Lava gestellt wird, deren Ende mit den Augen nicht zu ermessen ist – genau in der Mitte zwischen Start und Ziel, drei Tagesmärsche in jede Richtung. Am besten die Wahrheit. Unser „Kleener“ nickt und geht mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Es sind solche Momente, in denen ich Zweifel bekomme. Der Laugavegur stellt hohe Ansprüche – an einen Erwachsenen. Wie hart muss er erst für ein Kind sein. Mal stapft man stundenlang wie durch ein Butterfass über angetaute Schneefelder oder steil bergan über Geröllhalden, die kein Ende nehmen wollen. Die Kälte beißt in die Finger. Die Rucksackriemen zerren an den Schultern. Der Regen schlägt einem aufs Gemüt. Wir sind losgezogen, um gemeinsam ein echtes Abenteuer zu erleben – nicht, um eine Tapferkeitsmedaille zu erringen.
Aber ich weiß, dass Wege, die etwas bedeuten, nicht für lau zu haben sind, dass sie etwas kosten, vom ersten Schritt an Widerstand leisten, einen mit tausend Überraschungen beständig herausfordern und manchmal wirklich weh tun können. Denn nur auf solchen Wegen geht man über die eigenen Grenzen hinaus, findet neue Zugänge zu sich selbst und Vertrauen in die eigene Kraft – nur an solchen Wegen kann man wachsen. Insofern ist der Laugavegur vielleicht sogar ein idealer Weg, um einen 13-jährigen Jungen auf die Härten des Lebens vorzubereiten. Ein Initiations-Ritual. Mein Bauch sagt mir, dass wir das Richtige tun. Und in den wirklich wichtigen Dingen sollte man sich immer auf seinen Bauch verlassen. Der Verstand ist vielleicht ein cleverer Bruder, aber – wenn´s drauf ankommt – oft ein ziemlich einfältiger Ratgeber. Er quetscht die Welt aus wie eine Zitrone und findet dabei Antworten auf völlig nutzlose Fragen: Wie spät ist es? Wie lange braucht ein Raumschiff bis zum nächsten Stern? Was ist die Quadratwurzel aus 12? Oder er bewegt sich feige auf immer den gleichen Bahnen, weil er kontrollieren möchte, was nicht zu kontrollieren ist. Will man darüber hinausgelangen, muss man den Kopf abschalten und den Bauch machen lassen. Wenn man zum Beispiel wissen will, was Liebe ist oder der Sinn des Lebens – und wofür es sich zu kämpfen lohnt. Mein Bauch sagt mir, dass der Kampf mit dem Laugavegur sich lohnt. Für uns alle.
Am letzten Tag fordert Island die letzten Körner. Die Bergstation Hrafntinnusker hüllt sich in kalte Nebelschleier, der Morgen ist einer von der Sorte, die einem wie ein nasser Lappen um den Hals klebt. Ein Tag, um auch den härtesten Helden zu beugen. Unsere Schuhe sind von der elenden Schneestapferei völlig aufgeweicht, der letzte Rest Bienenwachs längst abgewaschen – sodass wir Plastetüten über die Socken ziehen müssen, damit wir uns keine Blasen laufen. Aber wir sind trotzdem guter Dinge, denn längst haben wir Bilder im Herzen, die uns niemand mehr nehmen kann und die uns auf Jahre für die Plackerei entschädigen: Wenn er will, verzaubert einen der Laugavegur immer wieder mit geradezu verschwenderischer Schönheit. Wir sehen Wiesen in goldenem Licht zwischen schwarzen Bergen leuchten, wie jenes sagenhafte Feld, das in der nordischen Mythologie beim Untergang der Götter vom großen Weltenbrand verschont bleibt und auf dem sich das geheimnisvolle Brettspiel wiederfindet, mit dem man die Zukunft erforschen kann. Wir sehen Schneeriesen mit ihren blauen Gletscherzungen gierig im feuchten Schoß der isländischen Erde lecken. Wir sehen Elfentränen im Gras. Berge, in denen Trolle ihre bestialischen Blutmahlzeiten kochen. Blumen, die aus kalten Steinen erblühen. Und dann liegt es vor uns: Das märchenhafte Landmannalaugar mit seinen Bergen aus Rhyolithgestein, das in allen Farben des Regenbogens schimmert.
An dieser Stelle endet einer unserer Wege. Ein anderer wird weitergehen. Das Schöne daran: Für unseren Sohn ist Island immer noch „cool“. Und das ist wohl das größte Kompliment, das dieses Land nach einer solchen Tour von einem 13-Jährigen erwarten darf.
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