Unter Strom

Blitz mit Tafelberg im Vordergrund
Noch ist das Gewitter ein Stück weg - hinterm Lilienstein. Aber keine halbe Stunde später blitzt es auch da, wo der Fotograf sich befindet, auf dem Adamsberg bei Altendorf. (Foto: Matthias Menge)

Gewitterjäger können es kaum erwarten, dass die Einschläge näher kommen. Einen von ihnen hat der Sandsteinblogger in der Nacht zu Mittwoch durch das schwere Unwetter in der Sächsischen Schweiz begleitet. Über entfesselte Elemente, Straßen ins Nirgendwo und ein Hobby, bei dem einem manchmal alle Haare zu Berge stehen.

Portrait
Matthias Menge.

Über dem Adamsberg flackert der Himmel. Schwere Gewitterwolken haben sich rings um Altendorf zusammengebraut – die Nacht leuchtet in allen Farben. Die Luft ist seltsam süß und drückend. Kein Wind geht, kein Grashalm rührt sich. Alles wartet angespannt auf den großen Knall. Da! Direkt über uns fährt ein Blitz durch die Wolken und zerreißt den Himmel wie Papier. Für den Bruchteil einer Sekunde steht die Sächsische Schweiz wie ein Scherenschnitt vor grellem Licht. Die Luft knistert. Das Gefühl geht bis in die Haarwurzeln. „Geil“, sagt Matthias gelassen. Seine Kamera schaut in die entgegengesetzte Richtung.

Krasse Farben, harte Kontraste

Matthias Menge gehört nicht unbedingt zu den Menschen, von denen man in der Zeitung lesen würde, dass sie an einem Wochentag nach der Schicht auf einem gottverlassenen Hügel hinterm Dorf zwischen Knäuelgras und Schafgarbe aus ihrem ungeliebten Leben geschieden sind. Er ist Anfang 40, ein sportlicher und fröhlicher Typ mit einer gesunden Portion Selbstvertrauen, einem ganz normalen Job, Auto, Garage, Familie, Kind – und allem Anschein nach den besten Voraussetzungen, irgendwann im hohen Alter zufrieden, still und ohne viel Aufsehen in einem Bett einzuschlafen.

Wäre da nicht sein außergewöhnliches Hobby. Matthias ist Gewitterjäger. Wenn es überall blitzt und kracht und andere Leute die Gardinen zumachen oder den Fernseher aus der Steckdose ziehen, schwirrt er draußen alleine durch die Nacht, zu Orten, wo die Elemente am gefährlichsten toben – immer auf der Jagd nach spektakulären Fotos. Viele davon landen später bei Facebook – Menges Fanpage ist eine der erfolgreichsten privaten Fotoseiten in der Elbsandstein-Region. Aber man muss ihn schon in seinem Element erlebt haben, um zu begreifen, dass der eigentliche Grund seiner Begeisterung nur wenig mit Klickzahlen oder Likes zu tun hat, sondern mit einem Menschen, den er selbst vielleicht bloß zur Hälfte kennt: mit Matthias Menge.

Blitze über dem Lilienstein
Der Lilienstein unter einer Gewitterkrone. (Foto: Matthias Menge)

Die Wolken können ihre aufgestaute Last nicht mehr halten. Binnen Sekunden fällt über dem Adamsberg der Vorhang. „Im Regen kann man keine Blitze fotografieren“, sagt Matthias. Die Stimmung wird verwaschen wie die Musik einer Metalband, die sich an einem Schmusesong versucht. Gewitterfotos brauchen satte Farben und harte Kontraste. Zumindest ist das Matthias Menges persönlicher Stil. Mit seiner Art zu fotografieren hat es der Bad Schandauer in der Fotografen-Community nicht leicht – mitunter findet man unter seinen Bildern scherzhaft-derbe Sticheleien von Fotofreunden über „Augenkrebs“ oder „ungesunde Blässe“. Doch wenn man ihn beim Gewitterjagen beobachtet, sieht man auch, wo er diese krassen Farben hernimmt: Die Natur hat sie in sich. Aber sie kommen nur unter extremen Umständen zum Vorschein. Ein Blitz macht die Landschaft für einen Moment taghell – aber es ist eine andere Landschaft. Um so vieles klarer. Tiefengesättigt. So lebendig und laut. Mit leuchtend grünen Wiesen und knallgelben Kornfeldern. Eine Landschaft in Matthias Menges Farben. Menge übertreibt, weil die Natur übertreibt. Manchmal. Und vielleicht noch aus einem anderen Grund: Weil ihm anderswo im Leben womöglich ein bisschen Farbe fehlt.

Im Mündungsfeuer des Himmels

Wir werfen die Kameras ins Auto. Bloß runter vom Adamsberg! Sonst ist die Gewitterjagd vorbei, ehe sie richtig angefangen hat. Matthias kennt zwei benachbarte Fotospots auf der Rathmannsdorfer Höhe, und die Sächsische Schweiz ist bekannt dafür, dass hier jeder Berg und jedes Tal sein eigenes Wetter hat. „Falls ich dir zu schnell fahre, musst du es sagen“, bemerkt er beiläufig. „Sicher hast du genügend Airbags hier drin“, erwidere ich spöttisch. Im nächsten Augenblick fliegt mir die Beifahrerlehne wie ein Brett in den Rücken. Im unerbittlichen Zusammenspiel aus Masse und Beschleunigung werde ich wie eine Scheibe Salami ins Sitzpolster gedrückt und könnte schwören, dass wir einen Kometenschweif hinter dem Auspuff haben, der vom Adamsberg bis zum Popocatépetl reicht. Wir fliegen durch die Nacht und über Straßen, die hinter jeder Biegung ins Nirgendwo führen. Minuten später sind wir in Rathmannsdorf – nur um festzustellen, dass uns der Regen auf den Fersen geblieben ist. Wir jagen zurück zum Adamsberg, dann hinunter nach Bad Schandau, wo in Menges Garage zwei Bier auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Weiter geht´s Richtung Schmilka und hoch nach Ostrau, wo wir die Gewitterfront wieder einholen. Tür auf, raus ins Feld, mitten hinein in den Veitstanz. Stativ aufklappen, Blende und Belichtungszeit anpassen, scharf stellen, abdrücken. Es hagelt Blitze von allen Seiten. Eine Fotosalve folgt der nächsten. Den Gedanken, dass wir ins Mündungsfeuer des Himmels blicken, blende ich aus.

Blitze über einem Feld
Im Mündungsfeuer des Himmels. „Diese Naturgewalt. Das ist einfach genial!“, sagt Matthias Menge. (Foto: Matthias Menge)
Blitzeinschlag
Ein Blitzeinschlag unweit vom Dresdner Fernsehturm. (Foto: Matthias Menge)
Blitz über einer Brücke
Eines der wenigen Gewitter, bei dem auch Matthias die Flucht ergriffen hat. Das Foto zeigt einen Fächerblitz über einer Brücke gegenüber von Bad Schandau. Der Fotograf saß genau darunter. „Ich hab gemerkt, wie sich mir die Haare aufgestellt haben – da bin ich abgehauen“, erzählt er. (Foto: Matthias Menge)

Unterwegs hat mir Matthias erklärt, warum er dem Donnerwetter lieber hinterherjagt, statt die Windrichtung abzuschätzen, auf einen Tafelberg zu steigen und oben so lange zu warten, bis die Einschläge ganz von alleine zu ihm kommen. Auf Felsen steige er bei so einem Wetter nur ungern. „Ich will ja nicht gegrillt werden“, sagt der Gewitterjäger. Der Unterschied zwischen einem weiten Getreidefeld und einem blanken Felsplateau erscheint mir so plausibel wie die Theorie, dass man bei Gewitter lieber unter Buchen als unter Eichen Schutz suchen soll. In Wirklichkeit geht Matthias Menge nämlich kaum einem Unwetter aus dem Weg. Noch viel lieber als Blitze würde er Wirbelstürme jagen, als ob die Natur – da, wo sie am gefährlichsten ist – etwas in ihm zum Vorschein bringt, das im normalen Alltag nicht genügend zum Zug kommt. Matthias ist ein herzensguter Kerl, der sich mit anderen genauso freuen kann wie über sich selbst. Einer, der es nur selten versäumt, auf einen Kommentar seiner Facebookgemeinde einzugehen, der gerne mit lachenden Smileys antwortet – selbst Leuten, die an seinen Bildern herummäkeln. Den der Tod eines Freundes vor zwei Jahren so sehr mitgenommen hat, dass er ihn bis heute in vielen Beiträgen verlinkt.

Mann am Auto mit Kamera
Zum Schluss ein prüfender Blick aufs Kameradisplay. Sind die Fotos gut geworden? (Foto: Hartmut Landgraf)

„Einfach genial“

Aber jeder Mensch hat ein zweites Gesicht, das wir nur wenigen zeigen – oder von dem wir oft selbst gar nichts wissen. Als ich Matthias frage, was ihn an seinem Hobby am meisten fasziniert, überlegt er kurz: „Schwer zu sagen. Diese Naturgewalt. Das ist einfach genial.“ Worte haben eine zu geringe Reichweite, um die Empfindungen auszudrücken, die darunter liegen. Vielleicht ist es bei Matthias so, dass er manchmal den Sturm sehen muss, um den Wind im Leben zu spüren. Und damit wäre er nicht allein. In dieser Hinsicht sind wohl auch andere Menschen in ihrem unbewussten, dunklen Selbst – Gewitterjäger.

Aber dieser tiefere Sinn des Abenteuers geht mir erst auf, als es vorbei ist. Als wir 2 Uhr nachts auf einem Parkplatz zwischen Mittelndorf und Lichtenhain die letzten Fotos schießen und still unser Bier trinken. Hinter den Feldern liegt die gesamte Nordflanke des Elbsandsteingebirges im Wetterleuchten wie eine schwarze, sturmreif geschossene Festung da. Wie Rauch überm Schlachtfeld ziehen Nebel vom Kirnitzschtal herbei. Das Leuchten entfernt sich, wird immer schwächer, bis es schließlich hinter den Bergen bei Sebnitz ganz verschwindet. Matthias hat eine volle Speicherkarte. Zu Hause will er sie gleich auf den Rechner laden, um zu sehen, was er alles gefangen hat. Auch mir ist noch nicht nach Schlafen zumute. Dabei war mein Tag einer von der Sorte, die man am liebsten aus dem Kalender streicht. Das alte Lied – Probleme und Leute, die einen aufhalten. Entscheidungen, die nicht kommen. Rückschläge. Enttäuschungen. Am Ende des Tages ist die Batterie leer. Dann kam das Gewitter. Und plötzlich ist alles wie ausgewechselt. Vielleicht war es der Freiflug durch die Nacht. Oder die Blitze. Wir schauen dem Nebel zu, wie er schläfrig über die Felder von dannen zieht – und sind beide hellwach. Leicht und frisch wie die Luft. Elektrisiert bis ins Blut. Fit, um Bäume auszureißen. Unter Strom.

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