Auf der Amundsen-Scott-Forschungsstation in der Antarktis muss man auf vieles gefasst sein: Geisterteilchen, Gartenarbeit – den härtesten Sauna-Wettkampf der Welt. Sogar auf ein Bild vom Elbsandsteingebirge. Ein Physiker aus Sachsen hatte es im Gepäck.
In einer der dieselstrombeheizten Kabinen der Amundsen-Scott-Forschungsstation hängt ein Foto an der Wand. Wie jeden Abend wirft Martin Wolf kurz vorm Einschlafen noch einen Blick darauf – um sich zu erinnern, wie grün die Erde ist. Das kann man in der Antarktis schon mal vergessen. Das Bild zeigt eine fast unwirklich schöne Landschaft: Wälder im Morgenlicht, sommerliche Wiesen, kleine bunte Dörfer. Und darüber ein einzelner dunkler Berggipfel, der wie eine Arche überm Nebel treibt. Das Bild zeigt den Lilienstein im Elbsandsteingebirge. Martin Wolf hat es selbst fotografiert, ausgedruckt und mit all seinem anderen Gepäck hierhergebracht, an einen der kältesten und lebensfeindlichsten Orte des Planeten.
So beginnt im Oktober 2016 ein Abenteuer, das nur ganz wenigen Menschen vergönnt ist und für das man mindestens einen wissenschaftlichen Auftrag, besondere Kenntnisse, beste Kontakte und obendrein eine Portion Glück benötigt: eine Überwinterung am Südpol. Man könnte die Geschichte auch andersherum erzählen und zweieinhalb Jahre später einsetzen – an einem Donnerstag im Februar 2019: Überm Lilienstein verdichtet sich der Himmel. „Kann sein, es gibt doch noch Regen“, sagt Martin Wolf und mustert die heranziehenden Wolkenbänke. Er ist nur auf der Durchreise auf einen Sprung ins Elbsandsteingebirge gekommen und hat vermutlich wenig Lust, mit nassen Sachen zurück in den Zug zu steigen. Wir sind zu einem Aussichtspunkt in den Schrammsteinen hinaufgeklettert, von wo man freie Sicht nach Westen hat. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr aus dem antarktischen Eis sieht der Physiker den markanten Tafelberg wieder – und diesmal ist es kein Foto.
Für Martin Wolf schließt sich hier ein Kreis, der ihn nach dem Abitur in seiner Heimatstadt Flöha in Sachsen über ein Physik-Studium in Heidelberg und eine Doktorandenstelle in Stockholm bis in die Antarktis führt, wo er schließlich am sogenannten IceCube-Detektor hautnah mit einem der aufwendigsten Projekte seines Fachbereichs in Berührung kommt, an dem er zuvor schon einige Jahre lang aus der Ferne mitgearbeitet hat: mit der Erforschung von Geisterteilchen. In jenem Sommer, als er sein Lieblingsfoto vom Lilienstein macht, läuft das Auswahlverfahren für den bis dahin spannendsten Job seines Lebens.
Das Südpol-Observatorium untersucht hochenergetische Teilchenströme, die aus dem All auf die Erde treffen und deren Partikel so klein sind, dass sie den gesamten Planeten praktisch ungehindert durchdringen, ohne mit einem einzigen Atom zu kollidieren: Neutrinos. Die elektrisch neutralen Elementarteilchen sind äußerst schwer nachzuweisen, so winzig und flüchtig, dass sie auch Geisterteilchen genannt werden. Die Wissenschaft erhofft sich von ihnen Aufschluss über die Herkunft und Beschaffenheit der kosmischen Strahlung, die im Zentrum weit entfernter Galaxien entsteht. Es braucht aber ein gewaltiges und engmaschiges Netz, um so kleine Fische zu fangen – eine Untersuchungseinheit mit einem Rauminhalt halb so groß wie der Chiemsee: einen Kubikkilometer. Solch ein Monstrum befindet sich unterm Eis des Südpols. „IceCube“ ist der weltgrößte Neutrino-Detektor.
Computer-Klempnern bei -60° Celsius
Martin Wolf verbringt mehr als ein Jahr in der Antarktis – er gehört zu einer internationalen Crew auf der Amundsen-Scott-Station, die auch den ganzen Winter über dort bleibt. Und genau zu dieser Zeit geschieht etwas, was wenig später Wissenschaftler in aller Welt begeistert: Davon bekommt der Sachse aber zunächst nichts mit. Als es passiert, schläft er gerade. Am 22. September 2017 geht Martin Wolf wie an jedem anderen Arbeitstag ins Bett – überm Kissen sein Lieblingsbild vom Lilienstein. Kurz darauf bekommt die Station ein Signal vom IceCube-Detektor. Das antarktische Observatorium registriert einen Einschlag.
Es dauert noch fast ein Jahr, bis geklärt ist, was für ein Fang da in dieser Nacht gemacht wurde: Zum ersten Mal ist es gelungen, den Ursprung eines extragalaktischen Neutrinos zu bestimmen. Das hochenergetische Teilchen, das im September 2017 vom Detektor erfasst wird, hinterlässt eine messbare Spur, die ins Zentrum einer entlegenen Galaxie im Sternbild Orion weist – vier Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Eine wissenschaftliche Sensation. Für Martin Wolf und seine Kollegen verläuft das Ereignis hingegen völlig unspektakulär. „Wenn ein Teilchen einschlägt, generiert der Detektor automatisch eine Nachricht, die alle folgenden Untersuchungen in eine bestimmte Richtung lenkt“, erklärt er. In Fachkreisen nennt man eine solche Nachricht über eine Entdeckung im Kosmos ein astronomisches Telegramm. Mit anderen Worten: Das Observatorium schickt eine E-Mail an seine Basis – und das war´s, die Mannschaft am Südpol kann weiterschlafen.
Es sind eher die scheinbar unbedeutenden und alltäglichen Ereignisse, die das Personal der Forschungsstation auf Trab halten. Fällt beispielsweise die Stromversorgung aus, was unter den extremen Witterungsbedingungen des Öfteren passiert, geht ein Alarm los. „Das Geräusch klingt so ähnlich wie ein Modem“, erinnert sich der Physiker. Wenn es ertönt, muss der Bereitschaftsdienst aus den Federn – oder sogar raus in die Kälte. Und das heißt, warm anziehen! Vom Stationsgebäude bis zum Observatorium sind es zwar nur 800 Meter, doch im Winter sinkt die Temperatur häufig unter -60 Grad Celsius. Und bis das kaputte Modul ausgetauscht ist, kann schon mal eine Stunde vergehen, sagt Martin Wolf.
Alltag am Südpol – Wolf hat Bilder davon mitgebracht: Männer mit ausufernden Bärten. Beengende Kabinen mit zugeklebten Fenstern. Michelin-Männchen in jumbogroßen Daunenjacken. Eisverkrustete Apparaturen. Schneefelder – hart wie Beton. Polarlichter. Und mittendrin: Tomatenstauden! „Das war eine meiner Aufgaben“, sagt der Physiker. Denn der Sachse hat am Südpol keinen Forschungsauftrag – sein Job am IceCube-Detektor ist der eines Technikers. Neben acht Wissenschaftlern sind auf der Station u.a. Elektriker, Klempner, Installateure und IT-Spezialisten beschäftigt… außerdem drei Köche und ein Arzt, zusammen 46 Leute. Aufgabe der Überwinterungscrew ist es, das Observatorium am Laufen zu halten, bis nach Monaten in totaler Isolation wieder Nachschub kommt. Martin Wolf´s Mission lautet: Aufpassen, dass kein Messmodul aussteigt und das ganze System stabil läuft. Notfalls muss er Teile zusammenlöten oder austauschen. Und wenn sonst nichts zu tun ist, kümmert er sich eben um den Stationsabwasch oder ums Gewächshaus. Wer am Südpol überwintert, muss anscheinend auf vieles gefasst sein: von Geisterteilchen bis zu Gartenarbeit.
Dienst nach Vorschrift – Iglubauen verboten!
Doch auch der ungewöhnlichste Job wird zur Routine. Wie sich herausstellt, ist eine der größten Herausforderungen bei einer Südpol-Überwinterung – die Langeweile. Die Station hat Freizeiträume, in denen die Crew viel Zeit verbringt: eine Turnhalle mit Volleyballfeld und einen Kraftraum. Eine Bibliothek. Zwei Kinoräume. Montags ist Movie-Night am Südpol. Mehrere Wochen läuft die amerikanische Science-Fiction-Doku „Mars“. „Genauso haben wir uns gefühlt, wie auf einem fremden Planeten – völlig isoliert. Ringsum gab es nichts als eine Wüste aus Eis. Der Film war also quasi unser Thema. Wir haben uns darin wiedergefunden.“
Vor der Tür ist andauernd Nacht – viereinhalb Monate lang, dann beginnt allmählich die Dämmerung. Bis es die Sonne endlich wieder richtig über den Horizont schafft, vergehen weitere Wochen. Man kann sich von der Stationsleitung ein paar Skier ausleihen und eine Runde um den Südpol drehen, sagt Martin Wolf. Aber dabei gibt es wenig zu sehen – der Südpol liegt auf einem riesigen Gletscherschild, ringsherum ist alles flach und verschneit, soweit das Auge reicht. Weil die ärztliche Versorgung auf der Station eingeschränkt ist und im Winter kein Flugzeug dorthin kommt, werden die Outdoor-Aktivitäten der Crew zudem stark reglementiert. Alles, was erhöhte Verletzungsgefahren birgt, ist verboten. Für den Bau eines Iglus stellt die Mannschaft per E-Mail extra einen Antrag im Kontrollzentrum in den USA – er wird abgelehnt. Wann immer es das Wetter zulässt, schnappt sich Martin Wolf seine Kamera und lauert draußen auf Polarlichter – hier Südlicht genannt, die Aurora Australis. Am Ende seiner Mission hat er zwei Terrabyte-Festplatten voll mit Fotos.
Es wird niemanden überraschen, dass Menschen beim zwangsweisen Stubenhocken auf allerlei absonderliche Ideen kommen: antarktische Weinverkostungen zum Beispiel oder einen wöchentlichen Debattierclub mit dem bezeichnenden Namen Thinkin‘ and Drinkin‘. Auf diese Weise ist hier auch das verrückteste Rennen seit dem legendären Wettlauf der beiden Polstürmer Amundsen und Scott entstanden: An extrem kalten Tagen, wenn die Temperaturen draußen unter -70° Celsius fallen, wird drinnen die Sauna angeheizt, auf 90 ° Celsius. Wer es nicht mehr aushält, läuft eine Runde um den Südpol – splitternackt!
Ein Jahr am Südpol – in Bildern
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Was lernt man aus solchen Erfahrungen? Wie geht das Leben danach weiter? Martin Wolf kann es nicht richtig in Worte fassen. „Vielleicht“, sagt er, „geht man bewusster mit Ressourcen um, weil dort alles knapp ist und gut eingeteilt werden muss.“ Vielleicht ist es auch nur die Wertschätzung für kleine Alltäglichkeiten wie den Geschmack von frischem Obst, den er 400 Tage lang entbehren musste. Oder es wird eine Lebensaufgabe daraus. Martin Wolf forscht heute an der TU München noch immer an Geisterteilchen. Er ist 34 Jahre alt und hat noch eine lange Berufslaufbahn vor sich. Gerne würde er dabei auch wieder in die Antarktis zurückkehren. „Ich kann mir vorstellen, sowas nochmal zu machen.“
Der Wind hat die Regenwolken vom Lilienstein bis zu uns getrieben. Wir packen die Kameras weg und rüsten uns für den Abstieg. „Wird ganz schön kalt hier mit der Zeit“, sagt Martin Wolf. Am Südpol hätte er das nicht gesagt. Wir haben fünf Grad plus.
Klasse das die Geschichte hier nochmal nachzulesen ist!