Kletterer haben im alten Tagebaugebiet bei Leipzig ein 17 Meter hohes Schaufelrad erklommen. Über ein verrücktes Fotoprojekt und die unheimliche Anziehungskraft zwischen Männern – und Baggern.
Der Flugverkehr stört das Bild. Alle fünf Minuten setzt in der Ferne ein Jumbo zur Landung an und durchkreuzt die Nacht und das Vorhaben mit einem ärgerlichen Lichtstreifen. „Da kommt schon wieder einer“, höre ich jemanden fluchen. Zu sehen ist niemand. Wir lauern verstreut in der Dunkelheit hinter unseren Kameras, jeder wartet auf seine Gelegenheit zum Schuss. Die Wiesen atmen ihre letzte Wärme aus. Es ist 22 Uhr. Blaue Stunde.
Was in dieser Nacht im alten Braunkohlegebiet nördlich von Leipzig geschieht, lässt sich nur schwer erklären. Unweit von Gerbisdorf in Nähe des Leipziger Flughafens ragt ein eisernes Ungetüm 17 Meter hoch in den Himmel und zeugt von den Hinterlassenschaften des einstigen Tagebaus Breitenfeld: das Schaufelrad eines gigantischen Baggers. Der SRs 6300, gebaut 1989 im VEB Kombinat TAKRAF, gehörte weltweit zu den größten Fördermaschinen seiner Art. Mit seinen 18 Schaufeln konnte er bis zu 50 Meter tief graben und 200.000 Kubikmeter Erde pro Tag bewegen – ein Fassungsvermögen von der Hälfte des Kölner Doms. Der Koloss war allerdings nur kurz im Einsatz, 1991 wurde die Anlage stillgelegt, der Tagebau geflutet und renaturiert – der Bagger 1996 gesprengt und verschrottet. Erhalten blieb nur sein Schaufelrad. Still und friedlich steht es nun als Denkmal in der von ihm geschändeten Landschaft. Der Zeit anheimgegeben. Graffitibeschmiert. Monströs. Auf morbide Art schön.
Verkehrte Welt – City Climbing
Das ist vermutlich das Verlockende daran – aus Sicht eines Fotografen. Doch für das Projekt, bei dem das alte Schaufelrad in dieser Nacht als Kulisse herhalten soll, braucht es noch etwas anderes: Jemanden, der verrückt genug ist, hinaufzusteigen. Menschen dieses Schlags würde man üblicherweise im Gebirge suchen. Aber man findet sie auch im Tiefland von Leipzig. Trotz ihrer eierkuchenflachen Umgebung ist die Messestadt Sachsens zweitgrößte Klettermetropole – mit mehreren Tausend organisierten Bergsteigern, überdachten Kunstwänden in zwei großen Kletter- und einer Boulderhalle und einer Zahl von Steinbrüchen im näheren Umfeld. Unter denen, die hier regelmäßig in die Vertikale gehen, betreibt eine Handvoll Leute eine Spielart des Sports, die sich für mehr traditionell denkende Bergsteiger zunächst mal nach verkehrter Welt anhört: City Climbing. Diese besondere Szene findet ihre Locations an Hauswänden, Türmen, Böschungsmauern und Brückenpfeilern. Oder an Industrie-Relikten im ehemaligen Braunkohle-Tagebaugebiet.
Am Flughafen Leipzig ist Pause, am Horizont herrscht einen Augenblick lang Ruhe. Die Kamera sieht nichts weiter als Sternenlicht. Und den Strahl einer einzelnen Stirnlampe, die in den Himmel gerichtet ist – ganz oben auf dem Baggerrad. Dort an der Kante hocken drei Gestalten nebeneinander. Darunter baumelt ein Seil. Der Moment ist da: Auf der Wiese klicken die Auslöser. Bevor das nächste Flugzeug kommt, muss das Foto im Kasten sein.
Verspätete Sandkastenspiele?
Karabiner klicken, Metall klimpert gegen Metall. Mindestens 30 Sekunden lang müssen die Statisten des Kletterprojekts in ihren Positionen verharren. So lange sammelt die Kamera alles Licht, das sie in der Umgebung finden kann und rechnet daraus ein Bild zusammen. Wenn jemand wackelt, muss der Balanceakt auf dem Baggerrad von vorne beginnen.
Ich mache mir insgeheim Gedanken über den Reiz und Zweck dieses Abenteuers. Vielleicht beginnt alles schon in der Kindheit. Im Sandkasten. Jungs bauen Burgen, erschaffen Berge, machen Menschen aus Lehm und Erde. Wir sind die Schöpfer unserer Welt. Entdecker mit Schaufeln in der Hand. Vielleicht bleibt davon etwas an uns hängen. Etwas, das uns unwiderstehlich zu Baufahrzeugen hinzieht. „Sex ist geil, aber bist du schon mal Bagger gefahren?“ Warum wohl lassen sich Männer solche Sätze auf T-Shirts drucken? Textilfirmen verdienen sich damit eine goldene Nase. Wenn es das ist, was die Unternehmung antreibt, dann berührt das Schaufelrad mit seiner Größe vielleicht nur einen männlichen Urinstinkt.
Aber es kann auch anders sein. Denn einer der Kletterer ist weiblich. Und sobald irgendwo eine Frau ins Spiel kommt, nimmt die Sache mit den Trieben fast vorhersehbar eine Wendung hin zur Kunst. Männer hören auf, prollige T-Shirts zu tragen, dichten Verse auf die Nacht, legen Phil-Collins-CDs in den Player, tauschen Bier gegen Rotwein und lernen wie John Travolta zu tanzen. Plötzlich bieten sich Felswände oder Schaufelräder als artistische Bühnen an. An solch eisernen Rippen und Streben empor zu klettern erfordert Konzentration und Körperbeherrschung. Die Tritte sind rund und rutschig. Jeder Meter – ein Tanz mit der Schwerkraft. Und schließlich: die Stirnlampe. Die Krönung der ganzen Inszenierung. Wie sich ihr Licht da am Nachthimmel verliert und den Schrott des Industriezeitalters mit den Tiefen des Alls verbindet, wo unsere Hoffnungen und Träume wohnen. Das hat Poesie. Nicht nur fotografisch. Stargate soll der Weg hinauf zum Scheitelpunkt des Baggerrads heißen.
Die Illusion dauert nicht lange. Von Osten steuert der nächste Jumbojet den Leipziger Flughafen an. Sein Brummen zittert über den Wiesen der alten Tagebaulandschaft und bringt die Nachtigallen für einen Moment zum Schweigen. Die Kletterer seilen sich ab. Die Fotografen klappen ihre Stative zusammen. Und das ungeheure Rad steht bald wieder schwarz und vergessen in der Landschaft wie ein Fossil aus einem anderen Zeitalter.
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