Ein 15-Jähriger schafft, was noch keinem Kletterer vor ihm gelang: Svante Neumann bewältigt alle 92 sächsischen Meisterwege in nur fünf Monaten. Zugute kommen ihm dabei die Corona-Maßnahmen.
Am Tag drei seiner Meisterserie hat Svante Neumann Bilderbuchbedingungen. Das Wetter ist ideal: frühlingshaft schön, aber nicht zu warm. Es geht kaum Wind. Der Fels ist trocken. Perfekt für ausgesetzte Südwände. Ein sonniger Morgen in der Sächsischen Schweiz. Normalerweise hätte Svante jetzt eine Doppelstunde Deutsch, danach Mathe und Ethik. Vielleicht hätten sie in der Schule sogar eine Klausur geschrieben – noch so kurz vor den Osterferien. Stattdessen steht er in Kletterschuhen vor einer Wand im Bielatal und studiert sein nächstes Ziel: den Hallenstein. Schule findet nicht statt. Schon seit Tagen nicht. Es ist Mittwoch, der 8. April 2020 – die dritte Woche im Lockdown.
Ausgerechnet die Corona-Maßnahmen kommen dem 15-Jährigen im Frühjahr bei seinen ehrgeizigen Plänen zugute: Svante will die sächsischen Meisterwege bezwingen – die legendären und großen Bollwerke des Klettersports – einen nach dem anderen, alle 92 Stück. Wege, die jeder für sich genommen Geschichte geschrieben haben und bis heute immer wieder für Gesprächsstoff sorgen. Ihr Mythos geht mehrere Jahrzehnte weit zurück auf eine Sportklassifizierung aus DDR-Zeiten, die früher als Spitzennorm galt. Um sie zu erfüllen, musste man zwölf dieser gefürchteten Klassiker binnen eines Jahres geklettert sein. Zwölf Meisterwege in einem Jahr war die härteste Reifeprüfung, die es für einen Bergsteiger gab. Nur wenige haben sie geschafft. Alle 92 in einem Jahr? Das wäre ein neues Kapitel.
Zwischen Lego und Irmgard Uhlig
Das Projekt beginnt Ende März am Westlichen Feldkopf im Rathener Gebiet, Krümelkante, VIIIa. Binnen zwei Wochen hat Svante bereits die ersten fünf Meisterwege in der Tasche. Am Donnerstag nach der Hallenstein-Südwand klettert er im Bielatal die berüchtigte Rostkante am Hauptwiesenstein (VIIIb), über die in einem Kletterforum zu lesen ist, sie sei nur „gefestigten Bergfreunden“ zu empfehlen. Tags darauf folgt die nicht minder bedrohliche „Herrenpartie“ am Höllenhund (VIIIb). Und so geht´s das ganze Frühjahr Schlag auf Schlag weiter bis tief in den Sommer hinein. Im Elbsandsteingebirge bahnt sich ein Rekord an.
Wenn man Svante daheim in seinem Elternhaus besucht, begegnet man einem ganz normalen Teenager. Anfangs vielleicht ein kleines bisschen wortkarg und verschlossen, aber schnell zugänglich, unumwunden und direkt. Ein Junge an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Auf dem Schrank in Svantes Raum steht ein großer gelber Lego-Truck. Der letzte Rest Kinderzimmer. Gleich daneben, überm Kopfkissen, hängt ein Aquarell der Bergmalerin Irmgard Uhlich. „Ein Original“, sagt der 15-Jährige mit fast schon vollendetem Wertebewusstsein. Lebenswelten, die nicht zusammenpassen. Symbole eines Übergangs. Und dann der Bettvorleger. Svante hat ihn in mühevoller Handarbeit selbst geknüpft – aus dem Seil, mit dem er die Meisterwege geklettert ist. Das erste Erinnerungsstück einer langen Lebensreise, die gerade erst begonnen hat.
Grünzeug und Meilensteine
Wohin sie führt, kann der Junge nicht sagen. Aber welcher Teenager kann das schon. Wenn er im nächsten Jahr die Schule verlässt, will Svante jedenfalls kein Profibergsteiger werden, sondern Tischler. Er klettert halt, weil´s ihm gefällt – nicht, weil er irgendeine hoch gesteckte Mission verfolgt. Dass er trotzdem richtig gut darin ist, hat etwas mit der Fülle an Gelegenheiten zu tun. Svantes Familie wohnt in Wehlen, nah dran an den Felsen. Seine Eltern Sven und Michaela sind begeisterte Kletterer. Für den Sohnemann beginnt alles schon im zarten Alter von zweieinhalb Jahren an der Narrenkappe, Alter Weg (I). Seitdem hat sich an ihrer Dreier-Seilschaft nicht viel geändert, nur die Ziele sind heute ganz andere. Zunächst geht´s ans Gipfelsammeln, weil Svante Spaß daran hat. Und es ist den Eltern eher ein Rätsel, dass ihn dabei der unbedeutende Beifang ganz besonders lockt. Gipfel mit so unrühmlichen Namen wie „Seife“, „Pfingststein“ oder „Dorfbachstein“. Das Grünzeug des Elbsandsteingebirges. Svante ist zwar Veganer – aber damit hat das nichts zu tun. Es liegt vielleicht an dem besonderen Klima von Urwüchsigkeit und Abenteuer, das im Tiefkeller der sächsischen Felsenwelt herrscht. „Quackensammeln fand ich einfach cool“, sagt er heute.
Aber es bleibt natürlich nicht bei den grünen Steinen. Svante bekommt schnell Lust auf mehr: auf große Wände und schwere Risse, auf nahezu alle Facetten des Sandsteinkletterns. Bald sammelt er keine Quacken mehr, sondern Meilensteine. Im Alter von zwölf Jahren hat Svante schließlich alle 1135 Gipfel der Sächsischen Schweiz bestiegen – auch die schwersten und prominentesten Türme: Kreuzturm, Teufelsturm, Friensteinkegel. Inzwischen werden in der Szene einige Leute auf ihn aufmerksam. Als Svante alle Gipfel zum zweiten Mal schafft – diesmal alle im Vorstieg, bringt der Sächsische Bergsteigerbund in seiner Vereinszeitschrift einen ersten Kurzbeitrag über den jugendlichen Gipfelsammler. Und der braucht bald schon ein neues Projekt. Irgendwas Cooles. Svante findet es, ganz der Zeit und seinem Alter entsprechend – im Internet. Eine Liste aller 92 sächsischen Meisterwege.
Geschafft. Und nun?
5. September 2020, Große Hunskirche im Gebiet der Steine. Es ist ein herbstgrauer Tag, trübes Licht, nicht unbedingt Traumbedingungen für die Fotografen, die Svante bei seinem letzten Meisterweg beobachten: Privatweg (VIIIb). Zwei Dutzend Kletterer haben sich unter der Wand eingefunden. Manche wollen mitmachen, andere einfach nur dabei sein. Bernd Arnold und drei seiner Gefährten sind gekommen – Gisbert Ludewig, Günter Priebst und Helfried Hering. „Wo ist denn nun das Wunderkind?“, fragt der Altmeister, halb im Scherz, als sich die Kletterer am Einstieg versammeln. Auch andere bekannte Gesichter sind dabei: Falk Richter und Markus Walter, mit denen Svante und seine Eltern im Frühjahr und Sommer etliche schwere Wege geklettert sind. Es gibt Nudelsalat und Kuchen. Von Bernd Arnold bekommt der frisch gebackene Klettermeister später einen monströsen Sicherungsring geschenkt. Ein Stück Alteisen mit Geschichte: Prototyp einer ganzen Serie von Ringen, die Ersterer für seine eigenen Kletterprojekte Anfang der 70er-Jahre schmieden ließ.
Am Abend nach der Gipfelparty wird das rostige Ding einen Ehrenplatz in Svantes Zimmer erhalten. Im Regal gegenüber von Irmgard Uhlig und dem gelben Lego-Truck. Svante hat derweil schon neue Pläne. „Ich war bisher noch nie so richtig schön klettern“, findet er. Das soll sich ändern. Nach den großen Bollwerken kommt nun das Must-have des sächsischen Bergsteigens: die 400 schönsten Wege der Sächsischen Schweiz. Es ist November geworden. Und Svante hat schon bald wieder Zeit zum Klettern. Der nächste Lockdown bahnt sich an.
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