Verzicht aus Schwäche – kein Kletterer will das erleben. Trotzdem kommt mit dem Alter irgendwann der Tag, an dem man sich insgeheim fragt: Bin ich diesem Weg noch gewachsen? Ein Geständnis am Rokokoturm.
Von Bernd Arnold
Diese Niederschrift ist an all jene gerichtet, die die Phase des bergsteigerischen Abbauens erreicht haben, für die anderen kann das Lesen vielleicht eine geistige Vorbereitung sein.
Zum „Gespräch auf dem Gipfel“ von Oskar Erich Meyer* hatte ich lange Zeit einen großen Abstand, ja sogar Unverständnis. Inzwischen, selbst 73 Lebensjahre alt, kann ich seine Gedanken nachvollziehen. Ja, sie werden sogar zu meinen eigenen…
„Noch nicht. Noch ist es nicht da. Ich will nach vielen gelungenen Fahrten, nach Sieg über Schwierigkeiten, nach Kampf mit Sturm und Nacht und Schnee, nicht das Schwerste erleben: den Verzicht aus Schwäche.“
Bange Fragen auf dem Weg zum Fels
17. Mai 2020, Elbsandstein – Kirnitzschtal – Parkplatz am Nassen Grund. Obwohl wir für unser heutiges Ziel gebührend früh dran sind, ergattern wir, erst nach einigem Rangieren, den letzten Parkplatz. Kein gutes Omen, denn wir haben Großes vor. Wir, das sind: meine Frau Christine, Tochter Heike und unsere 4 Enkel (Johanna 8, Robert 6, Edgar und Kurt 4 Jahre). Die anstehende Aufgabe ist die Jubiläumsbegehung des Siebziger Weges am Rokokoturm. Die mitwirkenden Freunde und Seilgefährten erwarten uns schon am Einstieg. Umso geschwinder geht es schweißtreibend die „Eulentilke“ hinauf zum Nordostfuß des Rokokoturms, einer, mit 90 Meter Höhe, eindrücklichsten Felswand im Elbsandstein. Diesmal lief die Romantik des Engtals an mir vorbei, vielmehr beschäftigten mich bange Fragen: Bin ich in meiner jetzigen körperlichen Verfassung diesem Weg, wenn auch im Nachstieg, noch gewachsen? Eine Antwort blieb ich mir schuldig, sodass ich auch den angeregten Gesprächen der Enkel kaum folgen konnte.
Endlich am Fuße der Wand. Hier warten schon die erlebnishungrigen Freunde und Seilgefährten. Eigentlich ein Platz für die Seele, denn dieser grasige Platz unter den Felsen war uns und den Altvorderen schon unzählige Male der Start für großartige Klettertouren. Und meine Tochter, jetzt im 42. Lebensjahr, erinnert sich hier noch gern an eine Hirschbegegnung aus ihrer Kindheit.
„…nicht das Schwerste erleben: den Verzicht aus Schwäche.“
Der Argumentation der Freunde glaubend und auf den Rat von Christine und Heike hörend, entscheide ich mich schließlich zur Seilverbindung. Wie auf eine Perlenschnur gereiht werden wir uns nach oben bewegen. Roger übernimmt den Vorstieg, ehrenvoll, immerhin hat er bei mir vor 40 Jahren das Klettern begonnen. Nawtel, Mario, Rainer, Andreas, Heike und zum Schluss ich, werden ihm folgen. Dass Heike vor mir ist, gibt mir Vertrauen, denn sie versteht meine Körpersprache fast blind und wird mir bei meinem Tun Rückhalt geben. Christine, sie kennt den Weg von einer Begehung aus dem Jahre 1985, wird über den Tag die Enkel mit spielerischer Kletterei beschäftigen.
Damals hat alles gepasst – vor 50 Jahren
Nun soll es so sein:
„Siebziger Weg IXa (IXb), RP IXc: Bernd Arnold, Günter Lamm, Wolfram Nolte. 17.5.1970 – Ganz rechts in der NO-Wand Riß hinter Rippe bis Ende (Ring). Wand zu Rippe (Unterstützt) Rippe und Wand zu 2. Ring. Rechts queren, dann seichte Mulde (3. Ring) und lange Rippe (4.Ring) bis Ende. Linkshaltend zu 5. Ring. Quergang links und Kamin des „Späten Weges“ zum Gipfel.“ (Kletterführer Sächsische Schweiz, Band Affensteine/Kleiner Zschand, Berg- & NaturVerlag Rölke, Dresden)
Diese Linie beschäftigte mich schon als junger Mann – eine von der Natur vorgegebene großartige Komposition. Damals, vor 50 Jahren, folgten wir die ersten 20 Meter im Riss Herbert Richters Spuren (sozusagen meinem Altvorderen). 1964 hatte er den ersten zaghaften Versuch gewagt. Danach begann für uns das absolute Neuland.
Es war kein Sturmlauf. Der erste Versuch am 3. Mai 1970 ergab den 2. Ring vor der evtl. Schlüsselstelle. Bei der Vollendung, inzwischen hatte ich mein tägliches Training auf die Anforderungen abgestimmt, wurde es ein systematisches, allerdings von Emotionen geladenes Höherkommen. Ich wusste Günter (mein damaliges zweites Ich) hinter mir und Wolfram sichernd am Ring darunter. Als Beobachter motivierte mich damals auch Willy Häntzschel, ein Steilkletterer über Jahrzehnte, ein vom Berggeist getragener väterlicher Freund. Irgendwie hat an diesem 17. Mai 1970 alles gepasst, dem Fels war ich gewachsen und er mir zugetan. Jedenfalls erreichten wir bei untergehender Sonne mit innerer Zufriedenheit den Gipfel des Rokokoturms. Wieder am Waldboden, war der Zuckerkuchen von Else (Frau von Willy) ein Genuss, nur der Kaffee war inzwischen kalt geworden.
Buchtipp
Die Erstbegehung des Siebziger Wegs war der Auftakt einer neuen Epoche im sächsischen Klettersport. In den 1970er- und 1980er-Jahren sollten viele weitere, auch international beachtete, Meilensteine im Elbsandstein folgen. Ausführlich beschrieben wird die Sturm-und-Drang-Zeit des sächsischen Klettergenies Bernd Arnold in Peter Brunnerts neuer Biografie „Barfuß im Sand“.
Peter Brunnert, Bernd Arnold. Barfuß im Sand, Panico Alpinverlag, Köngen 2020
ISBN 978-3-95611-132-7
Für mich, ganz persönlich, verkörpert dieser Kletterweg den Schlüssel zu einer neuen Epoche des Felskletterns. Überhaupt waren die 70iger-Jahre von klettertechnischen Fortschritten geprägt, die durch hohen Trainingsaufwand, aber auch durch romantisches Empfinden befördert wurden und uns somit viele glückliche Momente bescherten. Ein Weg zur Mitteilung an spätere Generationen…
„Es schwindet dahin mit der Kraft. Alles Erleben kommt aus dem Überschwang.“ (aus O.E. Meyer, Gespräch auf dem Gipfel)
Das Wichtigste ist die Freude
Nun sind alle an der Route beschäftigt und ich, als Letzter der Perlenkette, erwarte meinen Einsatz. Immerhin enttäusche ich mich nicht, kann noch mithalten mit den Jungen. Sogar die Erinnerung an den inneren Kampf um das Anbringen der Sicherungsringe und das Auflösen der Schlüsselstelle werden mir gegenwärtig. Zum Glück ist Heike über mir und am Gipfel sind wir alle vereint.
„Du wirst auf leichtere Gipfel gehen, der schwindenden Kraft gemäß. Das Erlebnis bleibt.“ (aus O.E. Meyer, Gespräch auf dem Gipfel)
Nach der „Erdung“ (wieder am Waldboden): In der Summe des Erlebens war es ein Kampf gegen meinen inzwischen zerschlissenen Körper. Den erforderlichen Antrieb gaben mir die Erinnerung an meine eigene Sturm-und-Drang-Zeit und die heutigen Seilgefährten, die buchstäbliche Verkörperung der Jugend. Ganz klar, die Freude darüber war allgegenwärtig, erfasste auch das Bodenpersonal (Oma Christine mit Enkeln) und bedurfte eines würdigen Umtrunks (nur für Erwachsene).
Es ist der Philosoph Karl Greitbauer, der nach diesem Klettererlebnis das letzte Wort haben soll. Ein passendes Schlusswort für Alternde, also für alle: „Auch O.E. Meyer bleibt nicht geworfen in der Bitternis des Verlustes seines bergsteigerischen Lebens, dem er so verbunden war, sondern er steigt innerlich größer aus diesem Prozess des Alterns mit seinen untragbaren Gewissheiten heraus, indem er die höhere Ordnung erkennt und anerkennt, die in allen Dingen der Natur und des natürlichen Geschehens liegt.“
Erst in der Weitergabe von erfahrener Freude ergibt sich die Sinnhaftigkeit eines erfüllten Lebens.
Berg Heil!
*Quellen:
- „Das Ganze der alpinen Idee“, Karl Greitbauer, Verlag Wilhelm Braumüller 1973
- „Gespräch auf dem Gipfel“ aus „Berg und Mensch“, Oskar Erich Meyer, Union Verlag Berlin 1938
Prof. Oskar Erich Meyer, geb. 1883 in Breslau, gest. 1939 Absturzfolgen. Neben der wissenschaftlichen Arbeit (u.a. Geologie / TH Breslau) war er Bergsteiger und bedeutender Bergschriftsteller. Orientierte sich an Schriften von Eugen Guido Lammer und prägte später Leo Maduschka.
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