Entscheidung in der Todeszone

Im Mai 1996 sterben am Mount Everest zwölf Bergsteiger. Die Tragödie macht Schlagzeilen, wird später sogar verfilmt. Was die Welt nicht mitbekommt: Eine sächsische Expedition ist Teil dieses alpinen Dramas.

Ein windgepeitschtes Schneefeld, wenige Hundert Meter unter dem Nordsattel. Eis und Einsamkeit, soweit das Auge reicht. Und darüber wie ein unerreichbarer Wolkenpalast: der Gipfel des Mount Everest. Das Advanced Base Camp (ABC) auf tibetischer Seite – auf 6400 Metern. Seit er 1996 die erste sächsische Expedition an den Berg führte, war Götz Wiegand nicht mehr dort. Als er zuletzt vor fünf Jahren noch einmal einen benachbarten Siebentausender besteigen wollte, waren die Bedingungen so schlecht, dass es Götz und sein Team nicht mal bis ins ABC schafften.

Und eigentlich wollte er überhaupt nicht mehr an den Everest zurückkehren – an keinen der Achttausender. Der Dresdner hat mit den höchsten Bergen abgeschlossen, denn sie haben ihm etwas genommen: den Glauben an eine heile Welt dort oben im ewigen Eis. Der Everest sei für ihn ein „Abschied von der Unschuld“ gewesen, sagt er heute. „Früher dachte ich: Der höchste Berg der Erde, die besten Bergsteiger – die beste Bergkameradschaft. Das war völlig naiv.“

Blick von der tibetischen Nordseite zum Mt. Everest. (Foto: Archiv Götz Wiegand)

Vier Achttausender hat Götz bestiegen, an zweien ist er gescheitert. Das alles ist lange vorbei. Götz hat sich verändert. Die Bartstoppeln am Kinn sind eisgrau geworden, die Sehnsucht nach dünner Luft und kalten Nächten im Zelt kommt allmählich zur Ruhe. Was bleibt, sind die Erinnerungen. Er hat sie in einem dicken, grauen Aktenordner gesammelt: Protokolle, Bittbriefe, Sponsorenverträge, Genehmigungen – 25 Jahre alte Dokumente, die von einem alpinen Wagnis berichten, das zu Unrecht in Vergessenheit geriet: die erste Everest-Expedition der Sachsen – im Mai 1996.

Von Norden wollen sie damals auf den Gipfel, sportlich und aus eigener Kraft, ohne den üblichen Tross alpiner Unternehmungen, ohne Sherpa-Führer, Träger und Küchenteam – und ohne Sauerstoff. Aber die Geschichte blickt in diesem Jahr von Süden auf den Berg. Im Mai 1996 sterben auf der Südseite des Mount Everest acht Bergsteiger in einem Wetterumschwung. Die Opfer sind Teilnehmer kommerzieller Expeditionen, Prominente sind darunter. Die Tragödie macht weltweit Schlagzeilen, John Krakauer schreibt ein Buch darüber, später wird es sogar verfilmt. Dass auf der Nordseite eine Expedition aus Sachsen Teil dieses alpinen Dramas wird, davon nimmt die Welt keine Notiz. Aber auch im Norden sterben Bergsteiger.

Im Basislager. (Foto: Archiv Götz Wiegand)

Die Sachsen sind im Frühjahr 1996 die Ersten am Everest, aber das Wetter ist unbeständig – sie brauchen mehrere Anläufe, um ihr erstes Hochlager zu errichten und Fixseile zu legen. Die Wege auf der Nordseite sind weit, schon allein der Aufstieg vom Basislager ins ABC dauert zwei Tage. Das ganze Hin und Her zehrt an den Kräften und drückt auf die Motivation. Als sich die Bedingungen um den 10. Mai dramatisch verschlechtern, trifft der Expeditionsleiter die einzig richtige Entscheidung. „Was da kam, war richtig scheiße“, sagt er. Sturm, Schnee, mangelnde Sicht. Die Sachsen ziehen sich vom Berg zurück ins Basislager, um auf besseres Wetter zu warten. Andere aber laufen mitten hinein in den Veitstanz. „Wir sind abgestiegen – die Inder und die Japaner sind weiter hoch“, erzählt Wiegand. Die beiden Expeditionen liefern sich einen verbissenen Wettstreit um den Everest. Es geht um nationalen Stolz und den Ehrgeiz, 1996 als Erste auf dem Gipfel zu sein.

Für mich ist Bergsteigen ein Miteinander. Scheißegal, ob du auf den Wilisch willst oder den Everest.

Götz Wiegand, Expeditionsleiter

Als die Sachsen nach dem Sturm ins Hochlager zurückkehren, hat der Tod auf der Nordseite eines der finstersten Kapitel der alpinen Geschichte geschrieben. Der Leiter der indischen Expedition schickt seine Mannschaft ins Verderben. Berichten zufolge soll die Gruppe zu einem Kommando der indischen Grenztruppen gehört haben. In den Mallory-Steps oberhalb 8500 Meter haben die Bergsteiger kaum noch Sauerstoff, zu wenig Proviant und liegen Stunden hinter ihrem Zeitplan. Trotzdem erhalten sie den Befehl zum Weitergehen. Die drei Inder kehren nie vom Berg zurück. Aber die Tragödie erreicht erst mit der nachfolgenden japanischen Mannschaft ihren beschämenden Höhepunkt: Die Japaner steigen an den sterbenden Indern vorbei zum Gipfel – ohne ihnen zu helfen. Überliefert und belegt werden diese Ereignisse durch den Dresdner Kameramann Stefan Urlaß, der den Weg der sächsischen Expedition bis zum Nordsattel begleitet. Urlaß gelingt im Basislager ein historisches Interview mit den ruhmlosen Gipfelsiegern. „Es war wohl nur die japanische Höflichkeit, die ihnen gebot mir zu antworten“, sagt der Filmemacher.

Indessen erreichen Götz Wiegands Leute in einem neuerlichen Anlauf nach der Schlechtwetterfront wieder ihr Hochlager. Das Schicksal will, dass die Sachsen am Berg ausgerechnet der zweiten japanischen Expedition begegnen, die in diesem Frühjahr am Everest operiert – mit Verlusten. Die Truppe vermisst ihren Führer. „Falls wir ihn finden würden, sollten wir ein Foto für seine Versicherung machen und für ihn beten“, erinnert sich Götz Wiegand. Doch dazu kommt es nicht.

Die Mannschaft der ersten sächsischen Everest-Expedition, 1996. (Foto: Archiv Götz Wiegand)

23. Mai 1996, Camp II auf 7800 Meter: Die hereinbrechende Nacht breitet ihren schwarzen Mantel über die gläserne Welt. Hinter den Eishäuptern des Himalaya verblasst ein letzter Streifen Tageslichts. Hier oben sieht die Erde wirklich wie eine Kugel aus – der Horizont ist rund. Es ist windstill, draußen vor dem Zelt ist jedes Geräusch zu hören. Drinnen herrscht Ruhe. Die Sachsen liegen im Schlafsack, gegen 21 Uhr wollen sie aufbrechen. Nur Thomas Türpe bekommt kein Auge zu. Er schnappt sich einen Topf, um Schnee zu schmelzen und Wasser zu kochen. „Du musst vor allem viel trinken, das ist enorm wichtig“, sagt der Dresdner. Auf annähernd 8000 Metern muss das Blut beständig verdünnt und am Zirkulieren gehalten werden. Türpe schlüpft aus dem Zelt, richtet sich auf – und bleibt wie angewurzelt stehen. Er glaubt, eine Erscheinung zu haben: Draußen im Schnee kriecht ein Mann herum. „Er kam auf mich zu getorkelt wie ein Sturzbetrunkener, fiel hin, rappelte sich wieder hoch und war völlig orientierungslos.“ Schnell wird klar – es ist der verschollene Japaner, der wie aus dem Nichts ins Lager stolpert. Aus dem Mann ist kein vernünftiges Wort mehr herauszubekommen, er zeigt deutliche Symptome der Höhenkrankheit. Die Hände sind schwarz von Erfrierungen. Die Sachsen stehen vor der wohl schwersten Entscheidung ihres Lebens: Nach jahrelangen Vorbereitungen, monatelangem Training und elenden Wochen des Wartens am Berg ist das große Ziel endlich zum Greifen nahe – jede verlorene Stunde könnte den langersehnten Traum zunichtemachen. Doch für den Japaner geht es um Leben und Tod.

Der Everest verhüllt sein Haupt. (Foto: Archiv Götz Wiegand)

Die Gipfelmannschaft beschließt zu bleiben und sich um den Kranken zu kümmern. Vor allem müssen sie ihm dringend Sauerstoff zuführen. Aber die Sachsen sind die Exoten am Berg – die einzige Everest-Mannschaft ohne Sauerstoff. Thomas Türpe sammelt draußen im Camp die von anderen Expeditionen weggeworfenen Flaschen ein, in der Hoffnung hier und da noch einen Rest von dem lebenswichtigen Gas zu finden. „Wir hatten auch keine Maske, die wir ihm aufsetzen konnten, sondern haben einfach nur die Ventile aufgedreht, um ein bisschen was von dem Sauerstoff ins Zelt zu kriegen“, erinnert er sich. Die Nacht vergeht – jede Stunde verloren für den Gipfelsturm, gewonnen für den Japaner. Dank der Sauerstoffbehandlung geht es dem Mann gegen Morgen körperlich etwas besser, aber die Verwirrung hält an. Thomas Türpe kann ihn gerade noch daran hindern, aus dem Zelt raus und ins Verderben zu laufen: „Er rief Summit, Summit – und wollte in Socken und mit einer Rolle Klopapier zum Gipfel.“

Bis endlich Sherpas der japanischen Expedition im Camp II eintreffen und den Kranken in Empfang nehmen können, hat das Gipfelteam eine Nacht und einen ganzen Tag verloren. 24 Stunden sind in solcher Höhe eine kaum noch abzulösende Hypothek. Als sie in der darauffolgenden Nacht aufbrechen, ist den Sachsen tief im Herzen schon klar: Sie werden es nicht schaffen. Die Rettungsaktion hat Kräfte gekostet, die unwiederbringlich verloren sind. Die Mannschaft kommt langsamer voran als geplant. Ein Stück oberhalb von Camp III ist definitiv Schluss, auf 8500 Metern. Ein bedeutungsloser Punkt im eisigen Nirgendwo markiert den Gipfel der ersten sächsischen Everest-Expedition – noch weit entfernt vom wirklichen Gipfel. „Wir haben einfach gemerkt, dass es Mist wurde. Es war eine Vernunftentscheidung“, sagt der Chemnitzer Jörg Stingl, der gemeinsam mit Türpe und dem Hamburger Timothy Riches zur Spitzengruppe gehörte. Die große Traum ist geplatzt – vorerst. „Damals hat mich das natürlich geärgert“, sagt Stingl. „Aber ich hab auch gesehen, wie leicht Leute in dieser Höhe sterben.“ Der Chemnitzer kehrt erst fünf Jahre später im Zuge der zweiten sächsischen Everest-Expedition an den Berg zurück – diesmal von Süden und mit Erfolg. Bis heute gilt er als der einzige Sachse, der auf dem Gipfel war.

Wir haben einfach gemerkt, dass es Mist wurde. Es war eine Vernunftentscheidung.

Jörg Stingl, 2001 erster Sachse auf dem Everest

Götz Wiegand hingegen schafft es nicht. Zwischen ihm und dem Everest bleibt etwas offen. 1996 steigt er mit der Nachhut nicht weiter auf als bis ins Camp II und kehrt mit der erschöpften Spitzengruppe zurück. Es ist eine Entscheidung, mit der er nie ganz ins Reine gekommen ist – die einzige von vielen. „Vielleicht war das taktisch falsch, vielleicht hätte die zweite Gruppe damals weitergehen müssen.“ Körperlich ist Götz bestens vorbereitet auf den Gipfel. „Ich war fit“, sagt er heute. Doch nach den dramatischen Wochen und den vielen Toten am Berg will der Expeditionsleiter seine Leute nur noch heil und gesund nach Hause bringen. „Ich hab oft geträumt, dass ich in Dresden aus dem Zug steige – und nicht alle dabei sind.“

Seit Jahren beobachtet er den kommerziellen Rummel an den höchsten Bergen der Welt mit Sorge und mit Abscheu. Wiegand hat es mehrfach selbst erlebt, wie verantwortungslose Expeditionsfirmen unbedarfte Abenteurer in die Todeszone führen. „Leute, die noch nie in ihrem Leben ein Steigeisen dranhatten“, sagt er. Die stolzen Gipfel und Eisgletscher sind käuflich geworden – für jeden, der es sich leisten kann. „Was da inzwischen abgeht, hat mit Bergsteigen nichts mehr zu tun.“

Obwohl etwas offen bleibt, hat Götz Wiegand mit dem Everest abgeschlossen. Vielleicht wird die Geschichte von 1996 irgendwann mal neu geschrieben. Und vielleicht erinnert sich die Welt dann an Götz Wiegand und die erste Expedition der Sachsen, die zwar ohne Gipfelsieg vom Everest heimkehren – aber nicht als Verlierer. „Für mich ist Bergsteigen ein Miteinander“, sagt Wiegand. „Scheißegal, ob du auf den Wilisch* willst oder auf den Everest.“

*Basaltkuppe südlich von Dresden, 476 Meter hoch

1 Kommentar zu Entscheidung in der Todeszone

  1. Habe heute den Timothy Riches von eurer damaligen Everest-Truppe beim Globi in Hamburg getroffen!!! Bei einer sehr spannenden Zustieg-Rucksackberatung erwähnte er im Gespräch -ganz nebenbei – diese atemberaubende Geschichte eurer Expedition am Everest! Das war so faszinierend und spannend! Ganz großen Respekt für eure Vernunft…
    Die Bücher von Krakauer sind richtig gut, vor allem die übers Klettern und Bergsteigen aber ohne Tim hätte ich das alles nicht erfahren. Ich bin einfach nur begeistert. Tinka W.

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