In der Kreidezeit war die Sächsische Schweiz ein Meer. So dachte man zumindest. Ein Experte findet Belege, die dieser Theorie widersprechen. Und die bringen ihn auf eine kühne Idee.
Etwas südlich von Hohnstein vor 90 Millionen Jahren. Unter einer subtropisch heißen Sonne dehnt sich eine endlose Wasserfläche bis an den Horizont: Tethys, das kreidezeitliche Südmeer. Europa ist zu dieser Zeit eine Welt aus kleinen Inseln. Eine davon ist die Lausitz, ihre Küste verläuft womöglich bei Heeselicht und Ehrenberg nach Osten, immer der Granitlinie folgend.
Die Sächsische Schweiz gibt es noch nicht. Erst Millionen Jahre später wird das Meer verschwunden sein, zu Stein verfestigt der einstige Ozeanboden. Dann haben die Kräfte des Klimas, der Tektonik und Verwitterung südlich von Hohnstein eine zerklüftete Mosaiklandschaft aus grauweißen Türmen und Tafelbergen erschaffen, die heute auf der Welt ihresgleichen sucht: das Elbsandsteingebirge.
An dieser altbekannten Theorie hat Rainer Reichstein Zweifel bekommen. Im Schulzengrund unweit der Brandaussicht. Dort weisen einige Felsen rätselhafte Strukturen auf, die nicht recht zum Bild mariner Sedimente passen wollen: schräg geriefte und bis zu vier Meter mächtige Schichten – ein großer Blätterteig aus Sandstein. Der ist ungewöhnlich feinkörnig, Kiesel oder ähnliche Einschlüsse gibt es kaum. So als ob schwache Kräfte aus der immer gleichen Richtung Schicht um Schicht übereinander gelagert haben – unendlich langsam, unendlich geduldig. Reichstein hat deshalb eine kühne Idee: Vielleicht, so sagt er, sind die Wände im Schulzengrund gar kein Meeresboden, sondern die Überreste einer flachen kreidezeitlichen Lagune. Oder mehr noch: Vielleicht sogar ein erster geologischer Beleg dafür, dass Teile des späteren Elbsandsteingebirges schon in der Kreidezeit trocken lagen. Zeitweilig zumindest. So eine Struktur, sagt er, könne entstehen, wo einst Sand vom Wind verweht wurde. Stetiger, auflandiger Wind aus Südwesten. Jahrhunderte lang. Vielleicht Jahrtausende. „Es könnte sein, dass wir uns mitten in einer Düne befinden.“
Der Schulzengrund – ein prähistorischer Strand? Rainer Reichstein ist kein Fantast, sondern jemand, der Sachsens steinernes Meer mit seinen Horizonten, Schichten und Tiefen wie kaum ein anderer lesen und deuten kann. Seit Jahren befasst er sich leidenschaftlich mit nichts anderem, als der in Stein geschriebenen Geschichte der Sächsischen Schweiz. Er weiß, was die Fachliteratur darüber sagt. Aber seine wichtigsten Bücher sind und bleiben die Felswände. Aus ihnen liest er heraus, wie ein Gebirge entsteht. Warum sich die Landschaft in so vielfältige Strukturen und Formen auffächert. Woher es kommt, dass körniger Quarzsand in unendlich langen Zeiträumen zu festen, kompakten Gebilden verklebt – stabil genug, um daran zu klettern. Reichstein ist eigentlich studierter Physiker, mit Geologie beschäftigt er sich aus purer Neugier. Doch mit der Zeit und beim Betrachten von nackten Felswänden wurde er jemand, den selbst ausgewiesene Fachleute ernst nehmen.
Und hier, im Schulzengrund, hat Reichstein etwas entdeckt, das ihn unsicher und sprachlos macht. Die mutmaßlichen Dünen müssten gewaltig hoch gewesen sein, damit eine solch mächtige Schicht von ihnen übrig bleiben konnte. 50 Meter, wie die berühmten Wanderdünen von Leba an der polnischen Ostseeküste. Das wäre eine spektakuläre Sache. Aber wie wahrscheinlich ist das? An diesem Punkt windet sich der sonst ruhige Geradeausredner Rainer Reichstein um die Konjunktive wie ein Aal um sein Zuhause im Kreidezeitmeer. Könnte. Wäre. Müsste. Festlegen will er sich nicht. Bislang seien alles nur Hypothesen, sagt er. Möglichkeiten. „Ich habe noch keine fertige Meinung.“
Aber Reichstein sucht. Nach den gleichen Bildern an anderen Stellen in der Sächsischen Schweiz. Nach Belegen, um seine These zu erhärten. Es gibt sie am Großen Zschirnstein und im Schmilkaer Gebiet. In den benachbarten Rathener Felsen hingegen nicht. Im Schulzengrund hat er feine, röhrchenartige Löcher im Fels entdeckt, die man als Spuren „fossiler Wurzelböden“ interpretieren könnte. Vielleicht Dünengras? Oder doch eher maritime Wurmlöcher? Der Experte schüttelt den Kopf. Im Mesozoikum wären solche Lebensformen größer gewesen. Fingerdick. Wahre Saurier unter den Wattwürmern. Reichstein findet im Brandgebiet auch Spuren, die seiner These widersprechen. In einer Gesteinsschicht direkt über dem Blätterteigstrand hat er einen daumengroßen Einschluss gefunden – womöglich ein versteinerter Krebsgang. Das aber würde bedeuten, dass einst dort oben drüber doch nichts anderes als Wasser war. „Es gibt auch typische Meeressedimente, wie sie nach den bislang gängigen Annahmen hierhergehören, mit großen Kieseln, fast schon Konglomeraten.“ Das hat mit der Strömung zu tun. In küstennahen Gewässern hat das Meer Energie fürs Grobe. Brandungswellen pflügen den Grund und nehmen mühelos größere Partikel mit. Solche Felsbereiche sind direkt oberhalb der rätselhaften Schicht zu erkennen – so, als wäre die Düne vom Meer verschluckt und allmählich von anderen Sedimenten überlagert worden. Überflutet, abgestumpft und breitgelutscht, sagt Reichstein. Wind macht in der Regel nur den Feinschliff. Große Kiesel würde vielleicht ein Orkan durch die Gegend peitschen. Es bleiben noch so viele Fragen offen. „Herrlich“, sagt Rainer Reichstein. Er liebt es, keine endgültige Antwort zu haben. Das spornt ihn an zu immer neuen Nachforschungen. Sein Lieblingsbuch – der Fels. Er wird es nie zu Ende lesen.
Die verschandelte Düne
Narrenhände… im Schulzengrund. Das mit den Felsmalereien konnten unsere Vorfahren in der Steinzeit schon mal deutlich besser! Bleibt zu hoffen, dass Archäologen in ferner Zukunft daraus keine Rückschlüsse auf den Stand unserer Kultur ziehen.
Die weit verbreiteten Eisenvererzungen – deren teils riesige flächige Ausdehnung beispielsweise auf der Bruchsohle des alten Steinbruches Wehlen beonders gut zu sehen ist – sind nur als Meeresboden erklärbar. Strand-/Ufer-/Dünenszenarien sind allenfalls in kleinen Randbereichen denkbar und dort auch ganz selbstverständlich, irgendwo muss das Tethysmeer ja auch Ränder gehabt haben.
Eine deutliche Schrägschichtung (Bildunterschrift) widerspricht aber nicht der Meeresboden-Theorie. Einige größere Felsplatten oder auch einzelne Felsen haben sich später durch Bodenveränderungen abgesenkt, schräg gestellt, oder sind sogar um 90 Grad abgekippt, so daß die Schichtung teilweise sogar senkrecht steht, siehe gewisse Felsblöcke z.B. in den Nikolsdorfer Wänden.