Neben der Spur

Im schwedisch-norwegischen Nationalpark Fulufjället kann man sich ungehindert in die Büsche schlagen. Doch wer nicht aufpasst, verliert dabei schnell jedes Gefühl für Raum und Zeit.

Der frische Bärenhaufen spricht Bände: Wir sind da anscheinend in eine wilde Sache hineingeraten. Im Licht des späten Nachmittags werfen nur die ranghöchsten Kiefern lange Schatten. Ihre Wipfel baden friedlich in der Sonne. Zu ihren Füßen aber herrscht ein gnadenloser Überlebenskampf. Halbvertrocknete Fichten rangeln mit hungrigen Birken um jeden freien Fleck und jedes Bisschen Feuchtigkeit. Alles, was dabei zerbricht und fällt, verfault im Unterholz – wird vom Moos verschluckt, von Ameisen, Pilzen und Käfern verdaut. Überall ist Wildwuchs, Bruchholz und Gestrüpp. Nirgendwo eine Spur. Menschen sind uns schon lange keine mehr begegnet – zuletzt auf einem markierten Pfad, weit oben in den Bergen. Den aber haben wir vor über fünf Stunden verlassen.


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Im Nationalpark Fulufjället an der schwedisch-norwegischen Grenze darf man das: sich ungehindert in die Büsche schlagen und frei nach Lust und Laune querfeldein wandern. Das jedoch ist leichter gesagt als getan. Wer nicht aufpasst, verliert im Dickicht schnell jedes Raum- und Zeitgefühl. Auf die Sonne ist hier kein Verlass, nach ihr kann man sich nicht gut orientieren – erst recht nicht an einem grauen Tag. Ohne Uhr und Kompass wären Stunde und Himmelsrichtung in den nordischen Wäldern ein ziemliches Rätsel. Am Ende ist dann vielleicht ein Kothaufen die letzte Gewissheit, die einem bleibt: Dass man nicht alleine ist.

Einen Kompass haben wir zwar. Nur wo, zum Teufel, ist der Girstakken? Die 850 Meter hohe Kuppe auf der norwegischen Seite des Nationalparks sollte unser Umkehrpunkt werden. Seit fünf Tagen sind wir in den Bergen unterwegs, unsere Füße und Schultern werden allmählich müde. Doch plötzlich scheinen wir dem Etappenziel keinen Schritt mehr näherzukommen.

Zwischen Baum und Borke

Fulufjället: Einer der letzten Flecken echter Wildnis in Europa. Wie eine vorgelagerte Schanze thront die Hochebene in der schwedischen Provinz Dalarna vor den Bergketten der Skanden, mit ihren steilen waldgesäumten Flanken und ihrem hochalpinen Gipfelplateau – einsam, windig und weit, mehr als 400 Quadratkilometer groß. Genug Platz, um für Tage oder Wochen vom Radar zu verschwinden. Unterwegs sein kann man hier nämlich nur auf eine Art: autark mit Rucksack und Zelt. Laut offizieller Karte gibt es markierte Gebirgspfade, die das Gebiet erschließen und bis hinüber nach Norwegen führen. Doch darauf sollte niemand vertrauen. Besonders im westlichen Teil des Nationalparks entpuppen sich die Markierungen oft als winzige Steinmännchen und der vermeintliche Weg als kaum sichtbare Spur, die im knietiefen Moos immer mehr zur Ahnung wird und schließlich – zum Nichts.

Wir kennen das. Solche Abenteuer sind nichts Neues mehr für uns – wir suchen sie sogar ein bisschen. Doch ein flauer Moment, wenn sie dann tatsächlich passieren und wir so plötzlich orientierungslos im Nirgendwo stehen, Tage entfernt von der nächsten Straße, gehört trotzdem immer dazu. So ein Moment ist jetzt. Bergabwärts hat sich das Gelände aus anfänglich lichter Strauchheide mittlerweile in einen undurchdringlichen Dschungel verwandelt, in dem wir mit unseren vollgepackten Kraxen nur noch äußerst mühsam vorankommen. Laut Karte müssten wir hier bald auf einen Pfad stoßen, der am Girstakken vorbei zurück in die Berge führt. Immer öfter prüfe ich mittels GPS die Position. Doch wir kriegen die verflixte Kuppe einfach nicht zu Gesicht und geraten stattdessen immer tiefer hinein ins Dickicht. Womöglich haben wir den Abzweig längst verpasst, ohne es zu merken.

Erst allmählich wird mir klar, in welcher Lage wir uns befinden. Wir haben nur zwei Flaschen Trinkwasser im Gepäck. Noch ahnen wir nicht, dass die Bäche weiter oben im Gebirge in diesem Sommer komplett ausgetrocknet sind – und wir mit unseren Reserven deshalb ganze anderthalb Tage hinkommen müssen. Vorerst kämpfen wir uns weiter schweißtreibend Meter für Meter durch den Busch. Und unsere Wasservorräte gehen zügig zur Neige.

Wildnis. Das klingt wie eine Phrase. In der Abenteuer- und Tourismusbranche ist das Wort längst zum Synonym für jedes urig-grüne Stück Restlandschaft geworden. Es gibt die Wildnis vermeintlich an der Müritz noch genauso wie im Allgäu, in Südfrankreich oder Montenegro. In nahezu jedem wirtschaftlich lukrativen Winkel der Welt. Heute führen zumeist bequeme, gut ausgebaute Wege hinein und hinaus – und zwischendurch gerne auch mal an einer Gasthaustür vorbei. Bis man ihr tatsächlich begegnet und merkt, was sie bedeutet: Gefahr!

Man könnte in so einer Gegend zum Beispiel völlig unbemerkt und unpoetisch dehydrieren, bis der Kreislauf schlapp macht. Sich die Beine brechen. Von einem Ast erschlagen werden. Oder einen Steilhang hinunterstürzen… Das Funknetz ist nur lückenhaft. Der nächste Wanderer würde einen womöglich erst übernächsten Sommer finden. Wenn überhaupt.

Ein Sandsteingebirge nach nordischer Art

Die Hochebene des Fulufjället in der schwedischen Provinz Dalarna ist eine geologische Besonderheit: Der letzte Rest einer uralten, ozeanischen Sedimentscholle, die in unvorstellbar langer Zeit mit der Plattendrift von der Südhalbkugel bis nach Skandinavien gelangt ist. Ihr Sandstein ist um ein Vielfaches älter und härter als unser heimischer in Sachsen – 1,5 Milliarden Jahre – und so fest, sodass ich ihn zuerst für Granit hielt. Hin und wieder findet man Steine mit eigenartig geriffelter Oberfläche, wo das Meer den Sand einst in Lagen übereinandergeschichtet hat, die Muster sehen fast ein bisschen wie Wellen aus.

Auch ökologisch ist der Nationalpark eine Perle: In den Bergwäldern des Hochplateaus leben Luchse, Wölfe, Elche, Vielfraße und Braunbären. Mit etwas Glück kann man seltene Vogelarten beobachten: z.B. Auerhühner, Schneehühner, Birkhühner, Gerfalken, verschiedene Eulenarten und sogar Adler.

Dinge, die man besser wegdrängt. In schwierigen Lagen braucht es einen kühlen Kopf und klare Gedanken. Wir müssen raus aus dem dicksten Busch, bevor die Sonne untergeht. Weiter absteigen ins Tal oder wieder hoch zur Baumgrenze, wo wir freie Sicht haben. Wir entscheiden uns für Letzteres. Nach einer weiteren Stunde Plackerei durch Kraut und Rüben treffen wir im Dickicht unversehens auf eine alte Jeep-Spur, die bergan ins Gebirge führt. Wir atmen auf: Die Welt hat uns wieder. Doch die Erleichterung über den bequemeren Weg währt nur kurz. Schon nach wenigen Hundert Metern endet die Fahrspur abrupt vor einem zerschlissenen Holzschild. Darauf ist in blassblauer Farbe ein Wort zu lesen: Girstakken. Und ein Smiley. Auch das kann einem passieren. Statt des gesuchten Trails nach Norden haben wir einen Wegweiser zum Gipfel der unbedeutenden Bergkuppe gefunden. Und irgendein Witzbold musste dem Brett sogar noch ein Lächeln ins Gesicht malen. Über norwegischen Humor weiß ich, ehrlich gesagt, sehr wenig. Hier ist er nicht nach unserem Geschmack!

Zwei Stunden später – die Sonne berührt schon den Horizont – schlagen wir schließlich am Rand eines Geröllfelds im Sattel zwischen dem Girstakken und seinem namenlosen Nachbarn unser Zelt auf. Wir sind am Ende unserer Kräfte und trollen uns alsbald in die Schlafsäcke. Wasser haben wir keins gefunden. Zum Abendbrot gibt´s zwei Handvoll trockenes Müsli und den letzten Schluck aus einer der beiden Trinkflaschen. Für den nächsten Tag bleiben uns noch knapp anderthalb Liter übrig. Wir können nur hoffen, dass einer der Bachläufe oben im Gebirge Wasser führt. Der Himmel im Westen glüht im Abendlicht. Keine Wolke ist zu sehen. Wahrscheinlich bleibt das Wetter weiter sonnig.

Der älteste Baum der Welt

Auch er gehört zu den Besonderheiten des Fulufället: Old Tjikko. Eine gemeine Fichte, deren Wurzelholz Wissenschaftler mithilfe der Radiokarbonmethode auf ein Alter von 9550 Jahren datiert haben. Damit wäre Old Tjikko der älteste lebende Einzelbaum der Welt. Es handelt sich hier allerdings um einen Klon-Baum. Uralt ist nur die Wurzel, die über Jahrtausende hinweg immer wieder neu ausgetrieben hat. Das Alter des derzeitigen Stamms wird hingegen „nur“ auf 600 Jahre geschätzt. Anfangs als biologische Rarität geheim gehalten, ist der Baum mittlerweile zu einer Touristenattraktion geworden, sodass ihn die Nationalparkverwaltung eingezäunt und zu seinem Schutz eine Plattform errichtet hat.

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